Plädoyer für Inklusion

by Gastbeitrag Kaiserinnenreich

Ein Gastbeitrag von Aleksandra.

Die dritte Schulvorstellung für die erste Klasse in einer Grundschule. Ich sitze mit meinem Kind, M., im Sekretariat und zum dritten Mal werde ich vom Sonderpädagogen gefragt: „Wollen Sie doch nicht eine Förderschule?“ Und ich denke mir zum dritten Mal „Nein, verdammt, deswegen sitze ich hier und nicht in einer Förderschule“, antworte aber freundlich und bestimmt „Nein, die Förderschule kommt für mich nicht in Frage, weil…“

Warum eigentlich nicht? Alle schwärmen so von den Förderschulen, wenn es um mehrfach behinderte Kinder geht. Sie würden so tolle Therapien bekommen, schwimmen, reiten, eigener Motorikraum, alle kennen sich mit Unterstützer Kommunikation aus…Manchmal hört sich das für mich an, wie Zauberschulen mit Feen, die alles gerade biegen, emotionale Störungen, körperlichmotorische, sprachliche, sogenannte geistige, schön nach Förderschwerpunkten aufgeteilt. Und dann das schlimme Gegenteil an den Regelschulen: überfüllte Klassen, Lehrer*innen, die keine Erfahrung mit behinderten Kindern haben, zu wenig Personal, Mobbing…Will ich das wirklich meinem Kind antun?!

Meine Antwort wird immer „Ja“ bleiben. Weil es hier nicht um Physiotherapie oder Logopädie geht oder meine Entlastung als Mutter. Es geht um ein Menschenrecht, das Recht meines Kindes auf Bildung nach Art.24 der UN BRK.

Die schulische Inklusion scheitert in Deutschland nicht an der Inklusion. Es gibt mehrere Faktoren aber der größte meiner Meinung nach ist, die Lust zu selektieren im Schulsystem. Ich sage bewusst „Lust“, weil der Eifer, mit dem das Schulsystem die Kinder selektiert, schon fast unmenschlich ist und mich leider sehr an die Art des Nationalsozialismus erinnert. Was mit vielen behinderten Kindern dann an den Sonderschulen passierte, weiß hoffentlich jeder von uns.

Nach dem zweiten Weltkrieg wollte schon in den 40-er Jahren die US-Besatzungsmacht das Schulsystem reformieren, weil es als ein System definiert wurde, das nicht zur Demokratie beiträgt. Dagegen haben sich erfolgreich Eliten gewehrt, und das ungerechte Schulsystem besteht bis heute.  

Es ist erstaunlich, wie normal es in Deutschland erscheint, Kinder im Alter von 10 Jahren ihrer Bildungschancen zu berauben, nur, weil die Eltern nicht genug deutsch sprechen, weil die Eltern von Hartz IV/Bürgergeld leben, weil die Kinder Schwarz sind, weil die Kinder eine Behinderung haben usw…

Als ich nach Deutschland kam, war ich fast 14 Jahre alt. In Polen war ich eine der besten Schüler*innen in der Grundschule, die übrigens bis zur achten Klasse ging. Hier landete ich auf einer Hauptschule mit hohem Migrant*innenanteil, ein Jahr zurückgestuft. Meine Eltern konnten mir nicht helfen, weil sie nicht viel verstanden. Ich bin gemobbt worden, weil ich kein Deutsch gesprochen habe. Ich brauchte viel Eigenkraft und engagierte Lehrer*innen, wie so viele Migrant*innenkinder, die nicht die Schule abbrechen oder sie mit nur einem Hauptschulabschluss beenden wollen. Diese Eigenkraft haben aber nicht alle. Trotzdem haben sie Potenziale, Träume und Wünsche, die wir 10-jährigen Kindern nicht zerstören dürfen.

Deutschland wird für dieses System international mehrfach kritisiert. Und es zeigt sich immer wieder, dass dieses Schulsystem nicht funktioniert. Es gibt in Zeiten von Fachkräftemangel immer mehr Schulabbrecher*innen, immer mehr Kinder können nicht richtig lesen und schreiben, in der Pisa Studie schneidet Deutschland regelmäßig schlecht ab. Die Corona Krise hat die Misere an den deutschen Schulen nur noch verschärft. Es gibt Stimmen in Deutschland, die argumentieren, es läge u.a. an der Inklusion. Meiner Meinung nach liegt es eher am Unwillen zur Inklusion. In anderen Ländern besteht die Inklusion schon sehr lange, und es funktioniert, z.B. gehen die Kinder in Italien seit den 1970-ern Jahren gemeinsam in die Schule. Die meisten Länder der Welt haben eine Grundschule bis zur achten oder neunten Klasse.

Es gibt einfach keinen logischen Grund. Auch nicht, was die Kosten- und Ressourcenfrage angeht. Wenn alle Kinder zusammen bis zur 08. oder 09. Klasse verbleiben dürften, hätten die Lehrer*innen nicht immer wieder ein Problem, sich auf neue Gruppen einstellen zu müssen. Der Klassenzusammenhalt wäre stärker und davon würden alle Kinder profitieren. Die Bürokratie, die mit den Schulanmeldungen jedes Jahr in Gang gesetzt wird nach der vierten Klasse, dann evtl. nach der sechsten Klasse ist eine Verschwendung von wertvollen Zeitstunden… Würden die Förderschulen geschlossen werden oder zu inklusiven Schulen umgebaut werden, würden neue Ressourcen an Personal, Räumen, Geld, Wissen freigesetzt werden, von denen alle Kinder profitieren würden, sowohl mit als auch ohne Behinderung.

Es rächt sich, dass Deutschland sich ein teures, ineffektives und ungerechtes Schulsystem leistet. Und trotzdem gelingt es, dieses System zu erhalten. Warum?!

Es ist zwar sehr vereinfacht gesagt, aber es liegt sehr nahe, dass die Erhaltung des aktuellen, ungerechten Schulsystems im Sinne von manchen Politker*innen, aber auch Elternbewegungen ist, die sich in den elitären Gymnasien von den anderen sozialen „Schichten“ abgrenzen wollen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg boykottierten privilegierte Kultusminister*innen eine grundlegende Veränderung des jetzigen Schulsystems. Anstatt die Menschenrechte von Kindern umzusetzen, so wie sie in der UN Kinderrechtskonvention und der UN Behindertenrechtskonvention festgelegt sind, politisieren und polarisieren die Parteien das Bildungsthema bis heute für ihre eigene Zwecke. Dass es im deutschen Förderalismus 16 Antworten zum Schulsystem gibt, ist ein weiteres Übel, weil schon Geburt und Wohnsitz in Deutschland bestimmen, ob meinem Kind das Recht auf schulische Inklusion zugesprochen wird oder nicht.

Und was hat das jetzt mit der Schulwahl für M. zu tun? Eine ganze Menge. Ich brauche schon wieder sehr viel Eigenkraft, damit M. auf die Regelschule kommt. Es sind viele Erklärungen, Rechtfertigungen, fast schon Kämpfe. Es ist die Erfahrung als Mutter machen zu müssen: „mein Kind will niemand, weil es eine Behinderung hat.“

Und ich verstehe es einfach nicht. Deutschland ist ein säkularisiertes Land, in dem wissenschaftliche Erkenntnisse für alles eine Rolle spielen. Warum nicht für die Bildung?

In Studien ist mehrfach nachgewiesen worden, dass Förderschulen oft keine Förderschulen sind, weil die Kinder im Vergleich zu Regelschulen weniger gefördert werden, ein unrealistisches Selbstbild entwickeln oder sich durch die Ausgrenzung stigmatisiert fühlen.

Kinder mit Behinderungen werden in diesem Parallelsystem einfach abgeschoben. Sie fahren in ihren eigenen Bussen zu ihren eigenen Schulen und niemand kriegt was mit.

Wenn ich mit M. durch die Straßen gehe, wird M. angestarrt, ich höre mir manchmal so dumme Kommentare an, wie „Ach, wie ist das passiert?“ „Das arme Kind“ und vieles mehr. Es liegt daran, dass Nichtbehinderte eben durch die Selektion Menschen mit Behinderungen im Alltag von Schule, Arbeit, Freizeit nicht begegnen. Und am Ende des Tages nicht wissen wo sie hingucken sollen, wenn sie einen Menschen im Rollstuhl sehen. Stichwort Ableismus, wo ich mich nicht ausnehme, weil ich genauso sozialisiert worden bin.

Es zeigt sich in der Speak Studie, dass Kinder in den Förderschulen einem höheren Risiko Gewalt und sexualisierte Gewalt zu erleben, ausgesetzt sind. Das wird leider auch kaum thematisiert. Die Gewalt wird oft verharmlost, vor allem bei Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung, oder sie wird erst gar nicht wahrgenommen.

Ich finde leider keine guten Argumente für die Förderschule, aber auch nicht für die Hauptschule oder das Gymnasium. Inklusion bedeutet eben nicht nur Teilhabe für Menschen mit Behinderungen, Inklusion bedeutet viel mehr. Sie nimmt die Menschen so, wie sie sind mit, unabhängig von der Herkunft, von sozialer Herkunft, von Hautfarbe, Geschlecht und Behinderung. Sie führt notwendige Veränderungen ein, damit alle Menschen in der Gesellschaft als handlungsfähige Individuen wahrgenommen werden.

Gerade in Zeiten, in denen Populisten und Nationalisten immer mehr Stimmen bekommen, ist es so wichtig, sich für Inklusion zu engagieren und aufzuzeigen, dass jeder Mensch wertvoll ist und jeder Mensch das Recht auf Selbstverwirklichung und jedes Kind das Recht auf gleichberechtigte Bildung hat. Jeder Mensch hat das Recht nicht ausgesondert zu werden!

Und das muss eben schon in der Schule anfangen, damit unsere Kinder nicht mehr die Berührungsängste haben, die wir vererbt bekommen haben, damit unsere Kinder in der Zukunft sich für eine bessere Welt engagieren, damit unsere Kinder zu selbstbewussten und zufriedenen Menschen heranwachsen und sich als Teil dieser Gesellschaft erleben können.

Es bedeutet aber auch für uns als Eltern, obwohl es verdammt schwierig ist, uns für unsere Kinder und für die Inklusion einzusetzen und es nicht zu akzeptieren, was der Sonderpädagoge mir einredet, nämlich, dass mein Kind besser auf einer Förderschule aufgehoben ist. Die meisten Eltern, denen ich begegne, würden ihr Kind mit Behinderung lieber in eine Regelschule geben, aber nicht unter den bestehenden Bedingungen. Die ändern sich aber nicht von alleine. Wir müssen uns alle dafür einsetzen, damit sich etwas ändert! Und jede Veränderung tut weh, aber sie ist notwendig, wenn wir uns innerhalb der Gesellschaft weiterentwickeln wollen.

Am 29.08. und am 30.08.2023 findet die UN-BRK Staatenprüfung statt. Der Kölner Verein Mittendrin e.V. organisiert gerade einen Protest von Eltern aus ganz Deutschland vor dem UN Gebäude in Genf, damit es sichtbar wird, wie Deutschland in puncto schulische Inklusion permanent gegen Menschenrechte verstößt. Macht mit und verbreitet überall den Aufruf:

#WirFahrenNachGenf (bei X, ehemals Twitter)

Und last but not least: Wir haben den gewollten Schulplatz bekommen!!! Yeah! Es ist eine Regelgrundschule mit einem sehr engagiertem Personal und mit Kindern, die kaum Berührungsängste haben. Wir freuen uns auf die neue und spannende Reise!

Gastbeitrag Kaiserinnenreich
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2 Kommentare zu “Plädoyer für Inklusion

  1. Das ist ein sehr interessanter Bericht und macht mich unglaublich traurig und Fassungslos. Haben nicht alle Kinder das Recht individuell gesehen zu werden, trotz ihrer Behinderung? In dem vorliegenden Fall wird es der Mutter ohne Kampf nicht ermöglicht, ihr Kind in der Regelschule anzumelden.
    Doch jedes Kind mit Handicap ist anders.

    Ich bin eine Mutter und dankbar, dass mein Kind eine Förderschule besuchen kann. Er ist mehrfachst schwerstbehindert und wird selbst im Erwachsenenalter weder seinen Namen schreiben noch sprechen können. Seine Interessen bestehen aus krabbeln, sich an Gegenständen hochzuziehen, oral alles zu erkunden und gelegentlich dort hineinzubeißen. Hierbei spielt es keine Rolle, ob es ein Gegenstand oder eine Person ist. Und selbstverständlich interessieren ihn seine Ausscheidungsprodukte so sehr, dass er sie verschmiert und teilweise auch oral erkundet. In einer Regeleinrichtung wären Schüler und Lehrpersonal massiv überfordert. Hat er nicht auch das Recht ein individuelles Leben führen zu können, mit der Unterstützung und Förderung, die er wirklich braucht? Benötigt er tatsächlich eine Beschulung, die in seinem Bereich nur defizitär wäre?

    Die Regelschule kam für uns aufgrund seines Selbst nicht in Frage, hier würden wir keinem helfen, am wenigstem ihm selbst.
    Ich hatte immer den Traum für die Inklusion meines Kindes, doch manchmal scheitern wir einfach an der Realität. Würden wir für Kinder wie meinem Sohn mehrere Individualbetreuer zuteilen wie in Schweden, dann sehe dies sicher anders aus….
    So hoffe ich, dass mein Kind in unserem bestehenden System die bestmögliche Förderung erhält.

  2. Danke, dass ihr euch so um Inklusion bemüht. Unser Sohn hat das Privileg (und das meine ich genauso wie ich es schreibe), ab diesem Schuljahr ein Kind mit Down Snydrom als Klassenkamerad zu bekommen.Ich bin den Eltern so dankbar, dass sie sich den Kampf um den Inklusionsplatz angetan haben. Für die Kinder ist es schon nach wenigen Tagen normal, dass L mit Begleitung kommt. Jeder kommt mal im Unterricht nicht klar, sagt mein Kind. Und “behindert” ist kein schönes Wort. Die Klasse hat sich auf “normal-anders” geeinigt.

    Wünsche euch alles Glück für euren Weg!

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