Ferienzeit mit autistischem Kind – ein Erfahrungsbericht von Constanze (@tim_tanzt_trotzdem)
“Dann wünsche ich einen schönen Urlaub!”, bekomme ich jedes Jahr mindestens von einer Person in meinem Umfeld gesagt, wenn die Sommerferien halb vorbei sind und zur zweiten Hälfte hin, endlich unsere erwerbsarbeitsfreie Zeit beginnt. So nenne ich mittlerweile unsere Urlaube: Erwerbsarbeitsfreie Zeit, denn Urlaub in seiner vollständigen Bedeutung, den haben wir nicht mehr, seitdem wir pflegende Eltern eines autistischen Kindes sind. (Und ich weiß, dieser Wunsch nach einem schönen Urlaub ist nett und ehrlich gemeint. Aber letztendlich sind die Nächte vermehrt durchmachen vor Aufregung, herausforderndes Verhalten durch die Übermüdung abfangen, engmaschige Begleitung den ganzen Tag (!) etc. keine gewöhnlichen Umstände, die einen erholsamen Urlaub ermöglichen würden. Das ist ein Fakt.
Urlaub ist “einem Arbeitnehmer zustehende arbeits- bzw. dienstfreie Zeit, die der Erholung dient” (Oxford Languages). Dieser letzte Satzteil ist entscheidend bei uns, wieso wir keinen Urlaub mehr seit acht Jahren hatten. Mein Mann und ich sind nicht nur erwerbstätige Eltern. Wir sind erwerbstätige und pflegende Eltern. Wir pflegen und betreuen unseren autistischen Sohn Tim, der zu 80% schwerbehindert ist mit Pflegegrad 4. Und die Pflege hört niemals auf. Sie hat keinen Feierabend, keine Sonn- und Feiertage, keine Urlaube. Sie ist unser zweiter, unentgeltlicher Job und ich wünsche mir nichts mehr, als das diese Tatsache ehrlich anerkannt wird.
Ich genieße (mittlerweile) unsere gemeinsame Familienzeit. Das war früher anders, als Tim noch klein gewesen ist. Die Wochenenden zu Hause sind kein Problem, denn solange unser Familienalltag eine gewisse Routine für Tim bereit hält, läuft es eben. Tim ist ein Autist, der seine Regelmäßigkeit in sämtlichen Belangen benötigt. Dann fühlt er sich sicher und ist entspannt. Und das entspannt uns natürlich auch. Ferien gehören in seinen Augen nicht zur Routine, weshalb gerade die Sommerzeit jahrelang sehr anstrengend gewesen ist. Wenn andere Eltern an typischen Orten mit ihren Kindern die Familienurlaube verbringen, sind wir immer nur zu meiner Familie in den ländlichen Osten gefahren, um dort eine gewisse Routine einhalten, gleichzeitig natürlich auch Zeit mit meinen Eltern verbringen, aber auch eine gewisse Unterstützung haben zu können. Wir sind immer fünf Personen gewesen, die sich abwechselnd um den kleinen Tim kümmern konnten. Das kleine “Dorf” sozusagen.
Ganze zwei Urlaubsreisen haben wir in den letzten acht Jahren mit Tim gewagt. Die erste Reise ging eine Woche zur Ostsee, als er ein Jahr alt war. Zu der Zeit war es rückblickend tatsächlich alles noch entspannt, denn als Baby war Tim so zufrieden, wie ein Baby nur sein kann. Solange er noch nicht gelaufen ist, war er eben im Schlepptau überall mit. Aber schon damals zeigten sich die ersten Herausforderungen und anderen Verhaltensweisen. Lange im Restaurant sitzen ging nicht so wie bei anderen Familien mit Baby. Längere Aufenthalte an Orten mit vielen Menschen machten ihn unruhig. Zu subtil, um damals schon zu erahnen, was los ist. Aber zu auffällig, um es ignorieren zu können. Wichtig zu erwähnen wäre, dass Tim damals auch noch nicht seine regelmäßig heftigen Schlafstörungen hatte. Das kam alles erst viel später.
Die zweite Reise ging ein Jahr später ins Sauerland. Tim hatte das Laufen gefühlt gerade erst gelernt. In Medebach, so heißt der Ort, hatten wir eine wirklich schöne Woche zusammen auf einem Bauernhof mit Ferienwohnung. Es gab ein tolles Spielzimmer für die Kinder, in dem wir tatsächlich viel Zeit verbrachten, viele Tiere zu bestaunen, an denen Tim nur wenige Interesse hatte, und die schönste Umgebung, die wir mit Buggy toll zu Fuß erkunden konnten. Trotzdem war es der Urlaub, der uns für die kommenden Jahre abgehalten hatte, nochmal so einen Urlaub zu buchen. Es war die erste Phase, in der Tim wirklich schlecht schlief. Ich meine, wirklich schlecht. Stundenlange Einschlafversuche mit viel Weinen, unterbrochenen Nächten, die natürlich auch viel zu früh endeten, sobald unser Sohn nur das kleinste Geräusch morgens wahrnahm. Wir waren nach dieser einen Woche ziemlich fertig. Schlafen konnte Tim quasi nur, wenn wir stundenlang mit ihm im Buggy herumliefen, unsere eigenen, übrig gebliebenen Ressourcen gezwungenermaßen ignorierend. Wir nannten unseren Ferienort gegen Ende nur noch “Müdebach”. Wir waren so am Ende, dass wir unsere letzte Übernachtung abbrachen, um eine Nacht mehr Schlaf zu Hause zu bekommen. Der gastgebenden Bauernfamilie erklärten wir die Situation, dass es auf keinen Fall daran lag, dass es uns dort nicht gefallen hätte. Aber mehr konnten wir auch nicht erklären, außer, dass unser Kind sehr schlecht schlief. Von einer Diagnose waren wir noch weit entfernt.
Und so verging uns die Lust auf Urlaub, denn Urlaub kostet natürlich auch Geld. Von der Investition möchten wir mehr haben als nur schlaflose Nächte und anstrengende Tage. Wir sagten uns immer: “Eines Tages wird es bestimmt wieder besser sein. Dann fahren wir auch wieder in den Urlaub.”
Besser wurde eigentlich nichts in der Hinsicht, nur anders. Wir fuhren natürlich auch immer zu meiner Familie in den Ferien, da aufgrund der Distanz von 660 Kilometern fast keine anderen Zeiträume im Jahr möglich waren. Auch diese Urlaube waren stets herausfordernd mit mehr Menschen anwesend und anderer Umgebung. Aber durch die Regelmäßigkeit und die Dauer von mindestens immer einer ganzen Woche, wurden die Besuche bei Tims Großeltern auch zu einer gewissen Routine.
In den Jahren 2019 – 2022 war an Familienurlaub gar nicht zu denken. Das war der Zeitraum, in dem meine Mutter so schwer erkrankte. Wir fuhren darum so oft wie möglich zu meiner Familie und verbrachten dort die Ferien, um noch so viel Zeit wie möglich mit ihr zu haben. Die einzige Reise in dieser Zeit war für Tim und mich 2020 eine Mutter-Kind-Kur in der Kurklinik Münstertal im schönen Staufen im Breisgau. Ich hatte wahnsinnige Angst vor dieser Reise. Mit Tim drei Wochen alleine in der Fremde, 500km von Zuhause und beinahe 1000km von meiner Heimat entfernt. Falls meine Mutter in der Zeit verstorben wäre, wäre es fast unmöglich gewesen, schnellstmöglich bei ihr zu sein. Zum Glück ging es ihr in dem Zeitraum gut und da Tim eine gute Phase hatte, waren es drei wirklich schöne Wochen gewesen, die unserer Mutter-Sohn-Beziehung mehr als gut taten. Ich staunte selbst, wie schnell sich Tim an dem Ort eingewöhnte, den Tagesablauf mit abwechselnder Betreuung und Mamazeit toll fand und obendrein auch relativ gut schlief. Es war, wenn man den Kurhintergrund und den Zustand ohne Papa da gewesen zu sein ausblendet, eine wirklich erholsame Zeit gewesen. Eine von wenigen in acht Jahren.
Seitdem Tim größer ist, sind die Herausforderungen und Schlafstörungen mehr und die Ressourcen gleichzeitig weniger geworden. Die Pflege und Sorge um meine Mutter hatte uns sehr zermürbt. Unterstützung konnte es zu Hause nicht mehr geben, also gab es im Urlaub bei meiner Familie auch keine Erholungsmomente mehr. So entschieden wir uns, unsere Entlastungsbeiträge (Verhinderungspflege) über die Pflegekasse in Anspruch zu nehmen, was wir bis dahin nur tageweise zu Hause und nicht in den Ferien taten. Aber auch wenn Entlastungsgelder bei einem behinderten Kind zur Verfügung stehen, muss erstmal eine Möglichkeit gefunden werden. Hier in meinem Heimatort hatten wir Glück und durch Zufall eine Einrichtung gefunden, die Tim als Tageskind aufnahm. Letztes Jahr klappte das schon so gut trotz etwas holpriger Eingewöhnung und mit Trennungsschmerz verbunden (,was für Tim eigentlich ungewöhnlich war,) dass wir ihn diesen Sommer wieder angemeldet haben. Tims Oma ist im Dezember 2022 verstorben. Rückblickend hat diese belastende Situation natürlich auch Tim verunsichert. Ich merke es einfach an seinem Verhalten, dass er dieses Jahr, obwohl so viel Zeit vergangen ist, sich in der Betreuung direkt am ersten Tag wohlgefühlt hat. Er erinnerte sich sogar an zwei Kinder mit Namen. Und direkt am ersten Tag ist es ein ganz anderer Abschied gewesen als noch letztes Jahr.
Diese Tatsache beruhigt mich zu wissen, alles wird irgendwie und irgendwann doch besser. Tim ist nun acht Jahre alt, seine Wahrnehmung und vor allem seine Kommunikation haben sich so verbessert. Das hat auch alle anderen Umstände verbessert. (Nun, bis auf das Schlafen, aber das ist ein anderes Thema.)
Die unterschiedlichen Erfahrungen mit Ferien und Urlauben machen mich hoffnungsvoll und zuversichtlich, dass wir es eines Tages doch wieder wagen möchten einmal richtigen Familienurlaub machen zu wollen. Einmal weg von zu Hause und eben auch nicht nur in meine Heimat. So traurig der Umstand mit meiner Mutter ist, so ist es eine Erleichterung zu wissen, dass ich mir jetzt keine Sorgen mehr um sie machen muss. Urlaub mit einem autistischen Kind, mit unserem Kind, wird wahrscheinlich immer gewisse Herausforderungen bereit halten. Aber daran arbeiten wir, um diese so klein wie möglich zu halten und trotzdem wieder mehr zu leben. Unser Leben ist gut. Wir haben das alles mittlerweile gut im Griff, aber damit das Leben noch sehr lange gut bleiben kann und wird, brauchen auch wir Eltern ab und zu eine Auszeit von der Pflege- und Betreuungssituation. Einfach um Kraft zu sammeln, um Energien aufzutanken, um einfach mal ausreichend zu schlafen. Denn wir wollen in vollem Umfang gute Eltern bleiben. Das geht nur, wenn wir eben auch mal Urlaub machen können in seiner ursprünglichen Definition: Eine erholsame Zeit haben, egal wo.
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