Ein Gastbeitrag von Brenda (@brendaempunkt).
Ich registriere ein Aufschrecken. Sein Blick fixiert den herannahenden Krankenwagen. Die Lichter blinken, die Sirene dröhnt in unseren Ohren. Wir stehen da und starren hin. Auf den RTW, der diesmal nicht unserer ist. Er fährt vorbei, wir atmen auf. Für einen kurzen Moment holt uns die Vergangenheit ein, die gar keine Vergangenheit ist. Denn wie könnte etwas vergangen sein, das immer präsent zu sein scheint?
Als ich Marta geboren habe, war Johan drei Jahre alt. Ein Kindergartenneuling, dessen größtes Problem die heimliche Entsorgung ungeliebter Apfelschnitzer aus einer quietschbunten Plastikdose sein sollte. Der seinen Platz in einer Gruppe halbstarker Kindergartenerprobter finden musste und ganz nebenbei ein großer Bruder werden wollte. Da war viel Umbruch in diesem kleinen Leben. Wie existenziell dieses Leben erschüttert werden kann – davon bekam wir nach der Geburt seiner Schwester eine erste leise Idee.
Geschwisterkinder haben keinen Zutritt zur Neo-Intensivstation (wohl aber zur Kinderintensiv, wenn sie in einer Trage vor den Bauch geschnallt sind; andere Geschichte). Johan lernte Marta drei Wochen nach ihrer Geburt kennen. Sie war ein Baby mit Specialequipment: Monitor immer an Board. Ansonsten gab es da nicht viele Besonderheiten. Zumindest aus der Sicht eines Dreijährigen. Ich habe die Vorstellung ziemlich lange ziemlich gut gespielt. Zeitgleich gestillt und Lego gebaut. Klinik- und Therapietermine überwiegend in die Kitazeiten gelegt. Und wenn das mal nicht ging, überaus fleißig die übertrieben große Spielausstattung des Physiotherapeuten gemeinsam mit Johan bespielt. Die ersten Monate waren gut.
Dann kamen die Krampfanfälle. RTW, West Syndrom, Cortisontherapie, Pneumonie und fünf Wochen auf Station in einer Kinderklinik, die bei angenehmer Verkehrslage in 45 Minuten mit dem Auto zu erreichen ist. Johan hat gesehen, wie der Rettungswagen vom Hof gefahren ist. Er musste miterleben, wie Mutter und Schwester für lange Zeit nicht wieder nach Hause kamen. Bei seinen wenigen Besuchen lag Marta in einem Gitterbett, das zierliche Gesicht von einer Atemmaske bedeckt. Niemand durfte ohne Mundschutz ins Zimmer. Und wir haben weitergespielt: Auf den Grünflächen des Klinikgeländes und im Sand des angrenzenden Spielplatzes. Es gibt viele Fotos aus dieser Zeit. Eingefangene Momente voll schöner Erinnerungen. Für immer beschwert durch die Dramatik der Umstände.
Mittlerweile ist Johan ein Grundschulkind. Er hat mehr erlebt, als die meisten Erwachsenen verkraften können: Alarmierende Monitore, Krampfanfälle, Atemnot, Pflegekräfte im eigenen Zuhause und eine Mutter, die gemeinsam mit seiner Schwester immer mal wieder unverhofft verschwindet. Von getrennten Urlauben und Geburtstagen in Kliniken will ich gar nicht anfangen.
Das Leben von Kindern wie Johan ist massiv belastet. Egal, wie gut sie sich in die Situation einfinden, wie (auffällig) unauffällig sie sich verhalten: Geschwisterkinder von schwerkranken Kindern stehen unter großem Druck. Sie tragen eine Last, die viel zu oft nicht als solche verstanden wird. Es ist die Aufgabe von Eltern und allen anderen Bezugspersonen, Kinder wie Johan zu begleiten, für sie da zu sein, ihnen Raum zu geben, sie aufzufangen. Immer wieder. Und dabei nicht zu vergessen, dass unsere angestrengten Bemühungen keine Garantie dafür sind, dass die Geschwisterkinder unbeschadet oder gar gestärkt zu selbstbewussten Menschen heranwachsen. Und dass hieran weder die Eltern, noch das Umfeld oder die so häufig als Sündenbock deklarierte Gesellschaft eine Schuld tragen. Das Leben von Kindern wie Johan ist belastet. Das sollten wir anerkennen. Die daraus resultierenden Konsequenzen können wir nicht absehen, aber uns deren Existenz bewertungsfrei eingestehen.
In unserer Familie gibt es viel Erschütterungspotenzial. Alle sind immer erschüttert, getroffen, verzweifelt, berührt. Hier passiert zu viel Traumatisches. Oft staune ich über Johans Stärke und Neigung zu Resilienz. Er ist empathisch und verständnisvoll. Noch nie habe ich erlebt, dass er über unsere Lebenssituation so richtig ausgelassen wütend war. Und dabei sollte er genau das sein (dürfen). Er sollte das nicht alles annehmen, nur weil es eben nicht zu ändern ist. Ich will nicht, dass er verantwortungsbewusst handelt. Er ist ein Kind und hat keine Verantwortung zu tragen. Und das gilt es unseren Kindern immer und immer wieder zu vermitteln: Du bist nicht verantwortlich für all das hier. Wir Eltern tragen die Verantwortung für unsere schwerkranken Kinder – und ebenso die Verantwortung dafür, die Geschwisterkinder aus ihrem Verantwortungsgefühl zu befreien.
„Wenn ich sage ‚NOTFALL‘, dann weißt du, dass es ein echter Notfall ist. Diese kleine Dose hier, die mit dem lila Deckel, steht jetzt immer neben dem Bett. Genau hier. Das ist das Notfall-Medikament. Wenn ich dir sage, dass ich die brauche, musst du mir die schnell holen. Das ist ganz wichtig“ – ich wünschte, ich müsste das nicht tun. Müsste meinem Sohn nicht erklären, wie er sich in einem Notfall zu verhalten hat. Aber oft ist einer von uns alleine mit den Kindern. Ich will es nicht darauf ankommen lassen, dass wir handlungsunfähig sind. Er soll sich vorbereitet fühlen. Wissen, was er im Notfall tun kann. Kinder brauchen Sicherheit. Wissen gibt Sicherheit. Davon bin ich überzeugt.
Wir haben mit den Geschwisterkindern immer offen gesprochen, was den Gesundheitszustand ihrer Schwester betrifft. Nicht schonungslos offen, sondern in abgeschwächter und altersentsprechender Form. Tom ist erst viert. Die Epilepsie war lange Zeit das Gewitter im Kopf. Die Muskelhypotonie kommt davon, dass Martas Gehirn den Muskeln nicht genau sagen kann, was sie tun sollen. Weil ihr Gehirn anders aussieht, als das ihrer Geschwister. Wir haben schon immer viel erklärt und besprochen, zugehört und zwischen den Kinderzeilen gelesen. Auch das gibt Sicherheit: Konsequent im Austausch mit den Kindern bleiben, ihre Sicht der Dinge wahrnehmen und besprechen. Ich wünsche mir, dass meine Kinder sich im Chaos unseres Lebens gesehen fühlen.
Die romantische Vorstellung von Eltern als Begleiter*innen ihrer Kinder mag in Haushalten mit gesunden Kindern bestimmt gut funktionieren, in meinem Leben mit schwerkrankem Kind erscheint mir diese Rolle zu passiv. Ich kann mich nicht mit der Idee anfreunden, meine gesunden Kinder durch unser Leben nur zu begleiten. Nicht, solange sie noch Kinder sind. Dafür erleben wir zu viele traumatische, niederschmetternde und tieftraurige Ereignisse, als dass ich lediglich als Begleiterin fungieren könnte. Meine Kinder sollen das nicht alles aushalten (müssen). Ich will sie nicht begleiten. Ich will sie da durchführen, leiten, die Richtung vorgeben. Sie sollen sich an mir orientieren können, ich will ihnen Sicherheit geben, bei mir sollen sie Halt finden. Ich will ihre Zuflucht sein, wenn das Leben zuschlägt. Bei mir sollen sie ihrer Wut Ausdruck verleihen, dem Ärger über die Ungerechtigkeit des f*ck Universums (oder was auch immer) Luft machen. Immer und wieder, solange sie das brauchen.
Ich treffe für alle meine Kinder Entscheidungen. In ihrem und meinem Sinne. Inwiefern das rückblickend betrachtet durchweg die richtigen Entscheidungen sein werden – das wird sich zeigen. Auf viele Entwicklungen haben wir keinen Einfluss. Jedes Kind hat ein eigenes Naturell mit persönlichen Bedürfnissen. Diese gilt es wahrzunehmen, anzunehmen und bei der Entscheidungsfindung bestmöglich einzubeziehen. Besonders was Informationen über Erkrankungen und damit einhergehende Komplikationen und mögliche Zukunftsszenarien betrifft. Für mich fühlt sich der offene Weg in der Kommunikation mit den Geschwisterkindern hinsichtlich Martas Erkrankung gerade richtig an. Das muss nicht so bleiben. Wir sind nur im Jetzt, reden nicht über die Zukunft. Sprechen über den Tod, wenn es einen Anlass dazu gibt. Und immer mal wieder zwischendurch – nie auf Marta bezogen. Johan weiß, dass Kinder sterben. Er hat Kontakt zu verwaisten Geschwisterkindern. Wir reden darüber, was in anderen Familien geschieht. Einen direkten Bezug zu unserer Familiensituation stellen wir nicht her. Noch will ich den Geschwistern nicht erklären, was eine palliative Behandlung auch bedeutet: Dass seine Schwester sterben wird. Irgendwann werden wir das müssen. Jetzt ist der Zeitpunkt noch nicht gekommen.
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Der Text hat mich sehr berührt. Kurz vor meiner Geburt wurde bei meiner Schwester Leukämie diagnostiziert. Ihre erste Chemotherapie lief quasi parallel zu meiner Geburt und Säuglingszeit. Sie ist kurz vor meinem 5. Geburtstag gestorben. Ich bin jetzt 42 und beginne erst seit den letzten Jahren zu verstehen und zu verarbeiten, was passiert ist. Das Sprechen über meine Verletzungen als Geschwisterkind ist schwer bis gar nicht möglich, weil die Reaktion immer ein „in Schutz nehmen meiner Eltern“ ist, ein Drängen auf Verständnis, dass sie nicht anders konnten. All das weiß ich und verstehe es – zumal seit ich selbst Mutter bin. Ich habe nie einen Raum gehabt für meine Emotionen und meinen Schmerz als Schwester in dem Familien-Szenario – und ich habe immer noch das Gefühl, ihn mir erkämpfen zu müssen. Im Text kommen Worte und Formulierungen vor, die ich genau beschreiben, wie es mir geht, was ich mir gewünscht hätte… Danke für den Text!
Danke für deine Nachricht. Die geschilderte Situation berührt mich sehr,da wir eine ähnliche Situation bei unseren Kindern erlebt haben. Heute sind unsere Kinder 42 und 45 Jahre. Unsere Tochter ist schwerbehindert und lebt jetzt in einer Einrichtung für behinderte Menschen. Aber die Beziehung hat sich bis heute nicht viel verändert, was uns sehr traurig macht. Es rührt aus der Situation im Babyalter. Kann man da heute noch was daran ändern?
So unmissverständlich erklärt, dass die Geschwisterkinder massiv belastet werden durch die Krankheit der kleinen Schwester, die Symptome und Krisen. So klar wird benannt, dass die Last zu gross ist, dass die Kinder schon mehr schwierige Situationen erleben mussten als viele Erwachsene.
Der Text berührend mich sehr!