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Nicht nur die Down-Syndrom-Community hat ein tolles Unterstützungsheft, wie Anna hier in ihrem letzten Post berichtet hat, sondern auch Eltern von Kindern mit Spina bifida und Hydrozephalus.
Seit etwas mehr als einem Jahr ist das Aufklärungsheft „Hauptsache gesund? Nein, Hauptsache geliebt!“ in der Welt. Inspiriert hat mich die tolle Arbeit von Lara Mars mit ihrem „Von Mutter zu Mutter“.
Während meiner Schwangerschaft habe ich mich sehr nach einer ähnlichen emotionalen Unterstützung gesehnt. Mehr als den Arztbrief mit der Diagnose „Spina bifida“ und „Hydrozephalus“ in meinem Mutterpass hatte ich nicht. Oder doch: Ich hatte eine Menge Angst und gleichzeitig so viel Liebe für mein noch ungeborenes Kind.
Ich suchte nach Büchern und Berichten von Eltern von Kindern mit Behinderung, speziell mit Spina bifida, in der Hoffnung, dass sie mir hätten sagen konnten, wie sie leben, wie Schwangerschaft nach einer Diagnose verlaufen kann, wie die Geburt mit ein bisschen Selbstbestimmung gestaltet werden kann – auch mit geplantem Kaiserschnitt und Intensivstation. Wie war es früher für diese Familien, wie ist es heute? Ich suchte nach Sätzen, die mir sagen: „Es wird vielleicht nicht immer leicht, aber es wird schon. Und es wird auch gut.“
Aber ich fand nichts davon. Alle Bilder, die ich fand, entsprachen nicht meiner Vorstellung von Familie. Ich spreche hier nicht von Vorstellungen einer unrealistischen Happy Family. Sondern von echten Familien, die sich lieben, streiten, in der Hektik des Alltags Tiefkühlpizza in den Ofen schieben und manchmal doch den Teig selbst machen. Menschen, die miteinander wachsen. Und die auch ein Kind mit Behinderung haben. Weil Behinderung ein Teil des Lebens ist.
Familienangehörige von behinderten Kindern werden oft entweder als tapfere Held*innen oder als überforderte, stark belastete Eltern dargestellt. Kann man nicht normal leben?, fragte ich mich damals. Kann man nicht mal entspannt, und mal überfordert sein?
Doch, so leben wir. Wir sammeln unzählige Glücksmomente mit unseren Kindern: am Küchentisch, auf dem Weg zum Kindergarten, im Urlaub, zwischen ihnen und ihren Freund*innen…
Dazwischen liegen jedoch auch tiefgreifende Erfahrungen, die nicht Teil der Biographie jeder Kindheit ist: Krankenhausaufenthalte, Begegnung mit vielen gesellschaftlichen Barrieren – sei es am Spielplatz oder in der Schule -, Therapie, Reha, OPs… In dieser Normalität haben wir alle gelernt, zu leben – und glücklich zu leben! Bist du neugierig? Hier Kannst Du ein kurzes Video sehen, das ich mit Bildern und Aufnahmen von 22 Kindern mit Spina bifida gemacht habe.
Nun ist das Heft schon seit Frühling 2022 da, und in den nächsten Wochen wird die zweite Auflage gedruckt! Viele Familien konnten damit unterstützt werden, gerade in Zeiten, in denen die Unsicherheit und Angst viel lauter sind als die Selbstverständlichkeit eines Ja für diese Kinder in der Schwangerschaft.
Und warum „Hauptsache geliebt“? Weil der Spruch „Hauptsache gesund“ für die eine Wahrheit gehalten wird. Und wir, Eltern von Kindern mit Spina bifida, möchten sagen: Nein! Hauptsache geliebt! Mit diesem Titel möchte ich nicht die politischen und gesellschaftlichen Aspekte, die mit dem Alltag von Familien mit einem (oder mehreren) Kind(ern) mit Spina bifida und Hydrozephalus und mit deren Pflege und Inklusion zu tun haben, auf eine rein familiäre Aufgabe reduzieren. Noch weniger will ich sagen, dass die Liebe, die wir zu unseren Kindern empfinden, alles (er-)tragen kann. Liebe kann sehr, sehr, sehr vieles! Aber Liebe baut keine Rampe. Liebe bildet keine Fachkraft professionell aus, mit den Kompetenzen, die man braucht, um unsere und alle anderen Kinder (mit und ohne Behinderung) versorgen, anleiten und anspornen zu
können.
„Hauptsache geliebt“ hat auch nichts mit der romantischen Liebe zu tun, die auf uns Eltern, vor allem auf uns Mütter von behinderten Kindern als „holy beings“ und „Alles Könner*innen“ projiziert wird. Diese Art von Liebe entmenschlicht uns. Es wird dabei (bewusst oder unbewusst) erwartet, dass wir immer Geduld und Verständnis zeigen, umsonst beraten und einfach weitermachen sollen, ohne für unsere Rechte einzustehen.
In der Broschüre sind dreizehn rührende Briefe von unterschiedlichen Familiengeschichten zu lesen, die wir an unser „Ich der Vergangenheit“ geschrieben haben. Wir sprechen über die Liebe als Gefühl, aber vor allem, was dieses Gefühl mit uns gemacht hat. Wie plötzlich Liebe zur Aktion wurde – als Individuum, in der Familie oder in der Gesellschaft.
Es ist berührend und kraftvoll zu sehen, wie Menschen, motiviert von der Liebe, von einer Freundschaft, von dem Respekt, den sie für andere Menschen empfinden, sich Fragen stellen, ihre Privilegien erkennen und Veränderungen anstoßen! Diese Offenheit, die die Grenze unseres Seins und der Menschheit erweitert, zelebriert das Menschliche in uns. Vielfältige Familien wie meine und viele andere werden dabei gesehen und zelebriert. Das ist Mikrorevolution!
„Hauptsache geliebt“ ist ein Inklusionsprojekt und will von Anfang an Sichtbarkeit für Familien mit behinderten Kindern erreichen.
P.S.: Das Heft ist sowohl direkt an betroffene Familien gerichtet als auch für Beratungsstellen, Gynäkolog*innen und Pränataldiagnostikzentren gedacht. Es kann hier bestellt werden.
Illustration von Karoline Mosen und Fotos von Natalie Sandsack.