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Als nicht-behinderte Frau musste ich (Bárbara), auch wenn leider ziemlich spät, vieles Neues lernen, als mein behindertes Kind auf die Welt kam. Ich hatte keine wirkliche Ahnung, wie Menschen mit Behinderung leben, wie es um ihre Rechte steht. Wäre das nicht schlimm genug, war ich auch der (falschen!) Meinung, dass wir als Gesellschaft schon viel im Bereich der Förderung von Inklusion, Barrierefreiheit und Gleichberechtigung für behinderte Menschen getan haben.
Mit der Geburt meines Kindes bin ich ins kalte Wasser gesprungen und wurde, wie alle pflegende Eltern es leider nur zu gut kennen, ziemlich schnell mit vielen Barrieren und unschönen Erfahrungen konfrontiert. Die erste Situation die ich erfahren habe, war direkt im Krankenhaus, nachdem mein Kind, damals ein fünf Tage altes Baby, aus der Intensivstation raus durfte und ich mich wie die glücklichste Mutter dieser Welt gefühlt habe und dachte: nichts und niemand kann mir dieses Gefühl wegnehmen. Bis eine Physiotherapeutin mir und meinem Mann sagte, bevor sie uns die ersten Physiktherapieübungen für mein Kind uns erklären wollte, dass wir als Eltern uns bewusst machen sollen, dass wir einen schweren Weg vor uns haben werden und dass wir uns eigentlich anders hätten entscheiden können. Ich starrte bei diesen Worten meinen Mann an und konnte meine Ohren nicht trauen. Ich fühlte mich komplett gelähmt und konnte in dem Moment nichts dazu sagen. Aber diese Erfahrung, bei der das Leben meines Kindes direkt nach seiner Geburt so sehr in Frage gestellt wurde, hat mich damals sehr verletzt. Ein Mama eines frisch geborenen Babys, egal ob mit oder ohne Behinderung, braucht etwas anderes als das. Ein Jahr später war ich dann bereit diese Erfahrung mit der Leitung der Kinderklinik zu teilen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wie gesagt, ich musste damals viel lernen und deshalb war es mir sehr wichtig, insbesondere Stimmen von behinderten Menschen zu hören und lesen – im Grunde genommen von ihnen zu lernen. Ich erinnere mich, wie ich damals besonders viel von Luisas L`Audace Instagram-Profil und durch den Podcast des Teams „Die Neue Norm“ gelernt habe. Über Luisas L´Audaces erstes Buch habe ich vor genau einem Jahre hier auf dem Blog geschrieben.
Der heutige Tag, der 3. Dezember, gilt weltweit als der „Internationale Tag der Menschen mit Behinderung“, ein Tag wo es darum geht, die Gesellschaft aufmerksam zu machen, dass Menschen mit Behinderung immer noch und viel zu oft benachteiligt werden.
Nicht nur heute, aber gerade heute, ist es uns wichtig, unseren Blog für die Stimmen von behinderten Menschen Platz zu machen. Dafür möchte ich das tolle Buch „Angry Cripples. Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus“ vorstellen, herausgegeben von Alina Buschmann, Luisa L´Audace bei dem Leykam Verlag. Mit sechszehn Kapitel von unterschiedlichen Autor*innen wie Kübra Sekin, Natalie Dedreux, Tanja Kollodzieyski, Nadine Rokstein, Jasmin Dickerson, Janina Nagel u.a. berichten sie über ihren Alltag, über Kunst, ableistische Erfahrungen, Pränataldiagnostik, selbstbestimmte Sexualität, über Gefühle wie Trauer und Hoffnung.
Der Begriff »Angry Cripples« kommt aus dem Englisch und bedeutet etwa wie verbitterte behinderte Menschen. Diese Formulierung wird oft als ein Vorwurf verwendet, als ob sie, auf Grund ihrer Behinderung verbittert geworden sind. Die Autor*innen postulieren:
„Dieses Buch fordert den Begriff zurück und besetzt ihn neu. Es kommen ausschließlich behinderte Menschen zu Wort – und viele von ihnen sind wütend darüber, wie die Gesellschaft mit ihnen umgeht. Zu Recht. Hier verschaffen sie sich Gehör, um eine inklusive Gesellschaft mitzuprägen“.
Um euch einen kleinen Einblick an dieses wichtige Buch zu geben, teile ich hier einige Abschnitte des Prologs des Buches mit, welches von Alina und Luisa geschrieben wurde.
Illustration von Carolin Treml
Prolog
Für behinderte Personen ist es nicht selbstverständlich, die Chance zu erhalten, gehört zu werden. Noch weniger selbstverständlich ist es, die Möglichkeit zu bekommen, anderen behinderten Menschen eine Bühne bieten zu können.
Viele behinderte Menschen haben in ihrem Umfeld keine Personen, die ihre Lebensrealität teilen, und auch in Büchern, Filmen oder anderen Medien werden wir kaum repräsentiert. Wenn es dann doch mal um eine behinderte Person geht, so geht dies selten ohne Ableismus und schädliche Narrative vonstatten und unser Leben wird dann entweder als »bemitleidenswert« oder »rührende Geschichte« stilisiert. Es macht ganz schön einsam, die Person zu sein, die nicht reinpasst, egal wie sehr sie sich anstrengt. Umso schöner ist das Gefühl, sich einer Community zugehörig fühlen zu können, deren Erfahrungen sich alle auf ein und denselben Grund zurückführen lassen: Ableismus.
Ableismus ist die strukturelle Diskriminierung von behinderten und chronisch kranken Menschen. Ableismus ist nicht nur stumpfe Behindertenfeindlichkeit, sondern bezieht sich mehr auf die Strukturen und Denkweisen dahinter. Erst der Begriff macht deutlich, dass es sich hierbei um ein System handelt. Ein System, in dem gewisse Fähigkeiten als essenziell angesehen werden. In dem Menschen nur etwas wert sind, wenn sie Leistung erbringen. In dem nicht-behinderte Menschen immer über behinderte Menschen gestellt werden und in dem wir als »unvollständig« und »kaputt« gelten, sobald wir chronisch krank und/oder behindert sind. Wir sind alle ableistisch sozialisiert. Es war also jede*r schon mal ableistisch und diese Denk- und Handlungsweisen müssen aktiv erkannt und verlernt werden. Ableismus braucht außerdem keine Intention. Es ist also egal, ob etwas »gar nicht böse gemeint« war. Ableismus kann sich ganz verschieden äußern. Sehr direkt, aber auch so versteckt, dass die meisten Menschen ihn nicht direkt erkennen würden.
Oft ist es so, dass wir Missstände und die daraus resultierenden Gefühle erst benennen können, wenn wir Worte dafür haben. So fühlte sich ein Großteil der behinderten Menschen sicherlich schon einmal verletzt, allein und machtlos, als sie Ableismus erfahren haben. Benennen können wir dies allerdings meistens erst, wenn wir verstehen, dass wir nicht allein damit sind und dass uns diese Dinge nicht durch Zufall oder Pech passieren, sondern aufgrund von struktureller Diskriminierung.
Doch obwohl wir genauso zur Gesellschaft gehören, wird unsere Lebensrealität regelmäßig als Einzelfall, Nischenthema oder als Mittel zum Zweck erachtet, um an einem dieser internationalen Tage kurz mal so zu tun, als wären wir der Mehrheitsgesellschaft wichtig und um den Anschein von Diversität zu erwecken. Dabei wäre diese Repräsentation so entscheidend und könnte nachhaltig dazu beitragen, dass wir weniger Vorurteilen ausgesetzt sind, sich unsere Sehgewohnheiten ändern und wir uns nicht länger allein mit unseren Gefühlen und Erfahrungen fühlen.
(…)
Behinderte Menschen, die nicht die Rolle der ständig dankbaren und bescheidenen Personen annehmen, laufen schnell Gefahr, als verbittert abgetan und als »Angry Cripples« bezeichnet zu werden. Wir holen uns den Begriff zurück. Wir sind laut, wir sind wütend und wir haben verdammt nochmal das Recht dazu.
Nicht-behinderte Menschen tendieren leider bisher dazu, sich nicht mit uns zu identifizieren. Sie gehen nicht davon aus, dass wir neben dem unbestreitbaren Unterschied der Diskriminierungserfahrung ähnliche Probleme, Gefühle und Ziele haben. Vielleicht aber auch, weil sie mit Behinderung zwangsläufig Leid verbinden. Dabei handelt es sich um ein hartnäckiges Narrativ, das während des Nationalsozialismus schon einmal als Begründung für einen Massenmord herhalten musste. Das hier ist jedoch weder ein Geschichtsbuch noch ein Sachbuch, in dem wir chronologisch die Ereignisse aus der Vergangenheit aufzählen. In dieser Anthologie * geht es um die Gegenwart. Um Geschichten direkt aus dem Leben behinderter Menschen in der heutigen Zeit.
(…)
Bücher behinderter Menschen verdienen einen Platz in den Bücherregalen dieser Welt!
“Angry cripples. Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus“, herausgegeben von Alina Buschmann, Luisa L´Audace. Leykam Verlag. 256 Seiten. 23,50€ Mehr Infos hier.