Der Unterschied

by Simone

Es gibt da einen Unterschied, über den wir uns einmal Gedanken machen sollten: es gibt ein großes Spektrum an Behinderungen und Pflegebedürftigkeiten. Dies bedeutet wiederum, dass die Herausforderungen für die Betroffenen und ihre Familien sehr sehr verschieden sein können.

Mein Sohn ist ein Kind mit Behinderung. Der Gendefekt meines Kindes ist sehr selten. Bevor ich Mutter eines Kindes mit Behinderung wurde, hatte leider auch ich keine Vorstellung davon, dass es derart seltene genetische Mutationen gibt. In meinem Kopf existierten nur Trisomie 21, 13 und 18 und dann hatte ich eventuell noch etwas von Autismus gehört. Aber den Gendefekt meines Kindes haben nur fünfzehn Menschen weltweit. Dieser Gendefekt wurde auch in der Pränataldiagnostik nicht erkannt. Nach einer Fruchtwasseruntersuchung erhielten wir die Nachricht: alles gut, ihr Kind ist gesund. Dass diese Aussage sowieso falsch ist – auch wenn keine genetische Veränderung vorliegt – ist dann wiederum eine andere Geschichte.

Mit sechs Monaten erhielten wir die Diagnose. Als mein Kind drei Jahre alt war, habe ich zum ersten Mal in Australien einen Erwachsenen mit derselben syndromalen Veränderung ausfindig gemacht. Es war wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Gefunden habe ich sie über eine geheime Facebook-Gruppe. Es war eine unbeschreibliche Erfahrung. Ein Jahr später habe ich mit einer Mutter in Großbritannien nachts gechattet – ihre erwachsene Tochter hat denselben Gendefekt wie mein kleiner Sohn. Und ich habe so viel geweint in dieser Nacht – vor Erleichterung. Denn ich bin auch eine von fünfzehn. Ich bin eine der fünfzehn Mütter eines Kindes mit dieser seltenen Genmutation. Das ist ein unfassbares Gefühl auf vielen verschiedenen Ebenen.

Mein Kind ist einer von fünfzehn! Geht’s noch individueller? Außerdem ist mein Sohn nicht nur behindert, sondern auch chronisch krank. Lebensbedrohlich krank. Herkömmliche Krankheitsbilder? Fehlanzeige. Er hat keinen Hydrocephalus, sondern indiopathische intrakranielle Hypertension. Er hat keine Chiari Malformation sondern eine chiariähnliche Konstellation – Ursache unbekannt. So könnte ich ewig weiter machen. Die Wahrheit ist: er hat mehrere seltene Erkrankungen und eine Behinderung aufgrund eines Gendefekts.

Was ich sagen will: es macht einen großen Unterschied, welche Art von Behinderung ein Mensch hat. Es gibt Körperbehinderungen, Lernbehinderung oder seelische sowie psychische Behinderungen. Mein Sohn hat eine genetische Spontanmutation, die nicht erforscht ist. Dennoch hat man uns prognostiziert: er wird nie sprechen, oder laufen lernen und, dass er wahrscheinlich lernbehindert ist. Nichts davon trifft auf mein Kind zu. Aber keiner hat uns prognostiziert, dass er aufgrund des Gendefekts so schwer krank werden könnte, dass er eventuell verstirbt. Aber genau das ist eingetreten. Fünf Mal habe ich mein Kind in den letzten sieben Jahren beinahe sterben sehen und ihn dabei in meinen Armen gehalten. Jedes Mal hoffend, es möge nicht passieren.

Denn: ich kann ein Kind mit einem Gendefekt auf die Welt bringen, welches ganz gesund ist, welches sich dennoch im Rahmen seiner Möglichkeiten toll entwickelt und einfach ein Kind mit Behinderung ist. Ich kann aber auch ein Kind mit Behinderung auf die Welt bringen, dass aufgrund dieser Veränderung schwer krank oder mehrfach schwerstbehindert ist. Jeder Gendefekt birgt ein Spektrum. Und dieses Spektrum kann auch keine Pränataldiagnostik prognostizieren.

Es macht einen Unterschied ein gesundes Kind mit Behinderung groß zu ziehen oder eines das lebensbedrohlich erkrankt ist und zuhause intensivmedizinisch betreut wird.

Es macht einen Unterschied, ob ich ein gesundes Kind mit Behinderung pflege, oder ein mehrfach schwerstbehindertes Kind.

Es macht einen Unterschied, ob mein behindertes Kind chronisch krank war, vielleicht zu früh geboren wurde oder Eltern eine traumatische Geburt erleben mussten.

Es macht einen Unterschied, ob ich mein behindertes Kind als Mutter oder Vater fast habe sterben sehen.

Es macht einen Unterschied, ob ich ein Kind pflege, dass wenig mobil ist, oder eines mit dem ich reisen kann. Es macht einen Unterschied, ob mein behindertes Kind nachts schläft oder Schlafstörungen hat.

Es macht einen Unterschied, ob ich selbst Hilfe bekomme oder alles allein stemmen muss. Es gibt einen Unterschied, ob dein Kind im Außen so überreizt und nicht mehr essen kann, dass du keine Ausflüge machen kannst und viel Zuhause bleiben musst.

Es liegt im Detail. Denn Behinderungen sind individuell. Und damit sind die Kinder in unterschiedlichem Maße pflegebedürftig. Es werden andere Kapazitäten und Anforderungen von den Eltern abverlangt. In manchen leben heißt das auch: Krankenhaus, Angst vor dem Tod, Einsamkeit und Isolation. Und das kann eben auch zu Traumata führen bei pflegenden Eltern. Ich kann aber auch ein behindertes Kind haben, mit dem ich reisen kann, welches sprechen und selbständig spielen kann. Eines, das irgendwann mal ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben führen kann. Das ist der Unterschied.

Ich finde darüber müssen auch pflegende Eltern sich klar werden. Das Leben mit einem Kind mit Behinderung ist so verschieden und hat im Pflegealltag ganz unterschiedliche Herausforderungen an uns Eltern. Die Anforderungskrisen, die wir gemeinsam mit unseren Kindern erleben unterscheiden sich enorm. Eine unserer größten Anforderungskrisen sind zum Beispiel häufige und lange Krankenhausaufenthalte mit lebensbedrohlichen Operationen. Das heißt für mich, dass wir eben nicht alle im selben Boot sitzen. Wir brauchen individuelles Verständnis. Wir müssen dringend anfangen zuzuhören, was Betroffene wirklich brauchen, und Herausforderungen tatsächlich individuell vorliegen. Nur durch Verständnis und Toleranz von Außen kommen wir weiter.

Es gibt pflegende Eltern, die durchaus noch arbeiten können und es gibt welche, die durch die Lebenssituation so stark eingeschränkt sind, dass es nicht möglich ist. Ein Beispiel: auf ein behindertes Kind kann durchaus auch mal Oma oder Opa, oder die liebe Freundin aufpassen. Auf ein Kind mit lebensbedrohlichen Erkrankungen eher nicht. Das schafft Fremdbestimmung und Abhängigkeitsverhältnisse, die nicht vergleichbar sind und berücksichtig werden müssten. Auch in der Eingliederungshilfe.

Pflege hat unterschiedliche Gesichter und damit ist sie auch unterschiedlich anstrengend und fordert uns auf ganz verschiedene Art und Weise in unserem Pflegealltag als Eltern. Manchmal merke ich erst am Ende eines Jahres wie anstrengend es war. Was ich in der Pflegearbeit und als Mutter alles geleistet habe. Bei uns steht vor allem gesundheitliche Stabilität im Vordergrund der Pflege. Das heißt: lebensbedrohliche Zustände vermeiden oder erkennen – und das auch auf dem Spielplatz oder in der Eisdiele. Unser Familienleben spielt sich manchmal wochenlang im Krankenhau ab. Und Entwicklung muss oft erst durch Therapien angestoßen und gefördert werde, damit mein Kind laufen, sprechen oder essen kann. Und dann machen wir natürlich noch alles, was Eltern sonst so machen: Carearbeit, erziehen, trösten, streiten und versöhnen, Freundschaften pflegen und Hausaufgaben machen, Wutanfälle begleiten und beim Großwerden dabei sein. Und manchmal wünsche ich mir nichts sehnlicher als einmal nur Mutter zu sein und nicht auch noch Ärztin, Pflegefachkraft, Therapeutin und Lehrerin.

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