“Alle Jahre wieder” – das letzte Seufzen im Jahr 2023

by Anna

Jetzt ist es bald soweit und das Jahr 2023 ist auch schon fast rum. Mit Cheyennes Text vor zwei Wochen haben wir euch schon einen Einblick in die Gedanken rund um Weihnachten oder Jahresende in einer Familie mit behinderten Kindern gegeben. Heute lesen wir, wie es Anke damit geht, dass Weihnachten da draußen nicht barrerefrei für Ihre Tochter ist, dass sie in jeder Hinsicht vor verschlossener Tür steht und dass niemand kommt, wenn Not im Advent ist. Ein starker Text, der uns nicht Betroffenen zum Aushalten auffordert, ganz ohne dass es da steht.

Die wunderschönen Bilder hat Natalie Stanczak gemacht, ihr findet Ihre Arbeit als Sandsackfotografie und als Teil von Faces of Moms auch auf Instagram.

Alle Jahre wieder wäre ich gerne unbeschwert und voller kindlicher Freude in der Erwartung des Weihnachtsfestes. Dabei ist meine Erwartungshaltung keineswegs utopisch. Ich wünsche mir für mein Kind nur ein gemütliches und auch geselliges Erleben dieser speziellen Zeit. Egal, ob bei Freunden im Wohnzimmer an einem Sonntagnachmittag oder mit Schokofrüchten auf dem Weihnachtsmarkt. Es gibt Rituale im Advent, die mir viel bedeuten, aber die mein Kind kaum miterleben kann.

Ein Bummel über den leuchtenden Weihnachtsmarkt, der Geruch von Waffeln und Zimt. Für mein Kind zu laut, zu hektisch und viel zu kalt. Menschen, die sie wegen ihrer Sehbehinderung nicht einschätzen kann und die ihr viel zu nahekommen. Alle Jahre wieder versuchen wir es. Nur kurz. Vielleicht eher am Mittag. Vielleicht auf dem Karussell, das sie so mag. Aber viel bleibt viel. Aus dem Karussell ist sie jetzt herausgewachsen. Zumindest ihr Körper.

Plätzchen backen und Lieder trällern am Sonntagnachmittag. Eine schöne Vorstellung! Aber die Ressourcen meines Kindes reichen nur für die Teigherstellung. Danach ist die Konzentration weg. Backen geht erst… Moment. Wann ist nach der Schule Zeit?

Montag: Therapieschwimmen

Dienstag: Ergo

Mittwoch!

Verzieren dann am Donnerstag? Nein, da arbeite ich.

Freitag? Nein, Logo und Orthotechnik.

Samstag!

Eine Woche Zeit für zwei Bleche Plätzchen. Alle Jahre wieder scheitern wir an unserer ToDo-Liste im Wochenverlauf. Weil unserem Alltag total egal ist, ob es besinnlich sein sollte – mit schönen Momenten intensiver Freude auf Weihnachten. Wenn der Takt des Tages durch Medikamente und Termine bestimmt ist, dann ist da wenig Ruhe. Die kommt oft erst am Abend. Die Ressourcen sind dann schon lange für anderes draufgegangen.

So finden wir neue Rituale. Ruhigere, ohne großen Aufwand. Lieder trällern und Plätzchen essen bei  den Adventsfenstern des Ortes.

Wir gehen immer am ersten Dezember zum Auftakt in die Kirche. Das erste Fenster wird dort eröffnet. Die Glocken läuten. Das Kind freut sich. Wir stehen am barrierefreien Seiteneingang. Geschlossen. Für uns. Wie es sich anfühlt vor einer verschlossenen Kirchentür zu stehen, wenn drinnen festlich eingesungen wird? Mit enttäuschtem Kind? Tja. Natürlich öffnet dann jemand die Türe, nachdem wir Hilfe geholt haben. Natürlich entschuldigt sich die Person an der Tür. Man habe nicht daran gedacht, dass auch diese Tür offen sein sollte. Alle Jahre wieder der gleiche Satz.

Wir suchen uns unsere Plätze also neu aus. Ohne Stufen. In der Nähe. Der kleine Imbiss am Weihnachtsbaumverkauf an der Umgehungsstraße. Falls es zu kalt wird, mit Kirschkernkissen, warmem Tee, dicken Mützen. Aber nichts bereitet uns darauf vor, wenn ein Mensch vor uns tritt und glühweinlachend frägt: „Na, lässt sich die Prinzessin wieder schieben?“ Was soll ich sagen? Lachen? Schubsen? Schimpfen? Schweigen? Alle Jahre wieder kommt ein neuer Spruch dazu. Ein neuer starrender Blick. Eine neue Irritation, in der ich unsicher werde, ob ich zu empfindlich bin oder die Menschen zu unsensibel.

Und zwischen Advent und Alltag meldet sich pünktlich seit 4 Jahren die Epilepsie. Wie viele Adventskalendertüren das Kind schon im Klinikzimmer geöffnet hat? Wir haben nicht gezählt. Der erste Schnee des Jahres und wir schauen aus dem Fenster des Doppelkrankenzimmers. Wunderschöne weiße Winterwelt! Aber alle Eltern, die ihre Kinder dazu auffordern, vor den Zimmern der Kinder Schneeengel zu machen „..damit die auch mal was Schönes zu sehen haben!“, verfluche ich. Drinnen weinende, enttäuschte Kinder. Draußen Gelächter.

Alle Jahre wieder kompensiere ich die Enttäuschung des Kindes. Ich lose Wichtelpärchen, überlege mir lustige Spiele, lese vor, beruhige das Kind während dem Anfall und denke über den Pflegenotstand in Kliniken nach, während das Kind in meinen Armen Nachschlaf braucht. Denn als ich den Notknopf gedrückt hatte, kam niemand. Ich bin ja da. Habe das Notfallmedikament immer in der Nähe. Das wissen die Pflegekräfte. Also kümmern sie sich um Kinder ohne Eltern auf Station. Das ist ok und gleichzeitig nicht. Sie müssen priorisieren. Wenn ich „wirklich“ Hilfe bräuchte, solle ich die Tür aufmachen und schreien. Schreiende Eltern sind wohl ein mächtigeres Signal, als Notknöpfe. Warum schreie ich eigentlich nie?

Aber das macht alles nichts. Denn alle Jahre wieder wünsche ich mir nur, dass wir es auch dieses Jahr schaffen: Weihnachten zu Hause. Bitte nicht in die Klinik. Bitte keine Medikamentenumstellung. Bitte kein Medikamentenmangel auf dem Markt, der uns auf Station zwingt. Bitte kein Anfall höher als Stufe 9 unserer Richterskala. Bitte keine bösen Überraschungen.

Darauf trinke ich den ersten Schluck Wein beim Kochen des Weihnachtsessens am Heiligen Abend. Daran denke ich, wenn das Kind lieber kein Geschenk auspacken will, weil tanzen so viel schöner ist.

Darüber weine ich erleichtert, wenn ich die Einschlafbegleitung übernehme und Ruhe einkehrt.

Deshalb singe ich seufzend „Alle Jahre wieder“.

4 Kommentare zu ““Alle Jahre wieder” – das letzte Seufzen im Jahr 2023

  1. Hallo Anke,
    da kann ich mich wunderbar drin wieder finden. Ich dachte nur mir geht es so.
    Dazu noch die Epilepsie. Ja, ich verstehe dich vollkommen.
    Weiterhin viel Kraft! Du machst das super…

  2. Pingback: Sandsack Fotografie | Homies mit Anke

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