Der Optimierungsdruck von Geburt an

by Bárbara Zimmermann

Wer entscheidet, was als normal für ein Kind gilt? Wer entscheidet, was in seiner Entwicklung akzeptabel ist? Wer entscheidet, was genug ist?

Ein Kind mit Behinderung wird in der Regel von mehreren Personen betreut und begleitet. Es gibt zahlreiche Personen, die Meinungen und Vorschläge zu ihm haben. In unserem Fall sind es nicht nur mein Mann und ich, sondern auch die Physiotherapeutin, die Therapeutin der Frühförderung, der Pflegedienst, der sie im Kindergarten katheterisiert, das Kindergartenteam, die Sanitäter*innen sowie die Ärzt*innen und Pfleger*innen aus den Bereichen der Orthopädie, Urologie und Neurologie. Und natürlich die Kinderärztin. Jeder hat eine eigene Perspektive und Erfahrungswerte. Es ist manchmal hilfreich, sich mit Fachmenschen auszutauschen. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass unser Kind sich in seinem eigenen Tempo entwickeln kann, ohne dass es dauerhaft Menschen gibt, die seine Entwicklung kommentieren oder verbessern möchten.

Es ist auch die Aufgabe aller Begleitpersonen unseres Kindes, Empfehlungen über ihre Gesundheit und Entwicklung zu machen, das ist mir bewusst. Dies ist Teil ihres Verantwortungsbereichs als Fachspezialisten. Mir ist jedoch aufgefallen, dass bestimmte Sätze häufig wiederholt werden, wie zum Beispiel alles was mein Kind lernen oder anders machen „muss“:

Sie muss beim Röntgen besser kooperieren.

Sie muss lernen, ihren Rucksack von der Garderobe bis zum Tisch selbertragen zu können.

Sie muss jeden Tag, die Fußorthesen tragen.

Sie muss den Oberkörper stabil halten.

Sie muss jeden Tag eine bestimmte Übung trainieren.

Sie muss so viel wie möglich, in den Stehorthesen stehen.

Sie muss bei der Physiotherapie gut mitmachen – und auch bei der Frühförderung.

Sie muss akzeptieren, dass sie fünfmal am Tag katheterisiert wird. Und dabei auch mitmachen und selbständiger werden.

Sie muss lernen, eigenständig in den Rollstuhl zu steigen.

Sie muss zulassen, dass die Ärzt*innen sie untersuchen – das mehrfach im Jahr!

Sie muss lernen, dass wenn der Pflegedienst in dem Kindergarten kommt, sie mit dem Spiel aufhören muss, um katheterisiert zu werden.

Sie muss, sie muss, sie muss!!! Für jedes Muss gibt es natürlich mehrere Argumente, die seine Berechtigung und Logik haben.

Dieser Satz wird jedoch nicht nur von Fachleuten verwendet, sondern auch von Bekannten und Fremden, die DIE Lösung für die „Probleme“ unseres Kindes haben und uns begeistert – und ungefragt – davon berichten. Zum Beispiel wie die Nachbarin meiner Schwiegermutter, die von der Nichte ihrer Kollegin erzählt, die nach einer Delphin-, Koala-, Pferde- (oder was auch immer-)Therapie mit viel Ausdauer plötzlich laufen konnte. Auch wenn das lieb gemeint ist, frage ich mich, ob sie sich nicht vorstellen kann, dass wir uns auch schon über alle möglichen Therapien informiert haben. Außerdem tut es mir schon weh, wenn ich jemandem in einem Gespräch fünfmal wiederholen muss, dass unser Kind nicht laufen können wird, wirklich nicht – und nicht weil sie genug Therapie macht, aber das ist eine andere Geschichte. Oder eine Bekannte, die eine Erklärung für den Wutausbruch meines Kindes hat und uns ihre Vermutungen mitteilt: „Jetzt kommt wahrscheinlich alles raus. Die Arme hat bestimmt ein Trauma nach ihrem erneuten Krankenhausaufenthalt“. Sie vergisst dabei jedoch, dass alle Kinder das Recht auf Wutausbrüche haben, ohne dass es dabei um ein Trauma handeln muss. Auch behinderte Kinder dürfen einfach so mal sauer sein!

Wenn von einer Seite viel erwartet wird, dass behinderte Kinder wie Erwachsene im Kleinformat viel mitmachen und kooperieren müssen, werden sie oft auch mit einem bemitleidenden Blick angeschaut: „Die Armen“.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass von ihnen erwartet wird, dass sie sich ständig anstrengen sollen, um zu versuchen, jemand anders zu sein, als sie eigentlich sind. Solange sie dieses Ziel nicht erreichen – was nie der Fall wird -, oder zumindest der Welt nicht zeigen, wie sehr sie sich bemühen, „besser“ zu werden, wird ihr Verhalten und ihren Körper immer bewertet werden. Und die endlose Erwartung nicht genug gesättigt zu haben, wird immer da im Raum stehen. Das ist Optimierungsdruck von Geburt an, je nach dem seit wann das Kind behindert ist!

Bild von mehreren Linealen und Messbändern.
Bild von Ariel auf Pixabay

Als wäre es nicht schon anstrengend genug, mit einer Behinderung in den Gegebenheiten dieser Welt zu leben und sich dabei oft anpassen zu müssen, um teilhaben zu können, in einer Welt die selten für sie konzipiert wurde, müssen Menschen mit Behinderung oft den Eindruck vermitteln, als müssten sie ihre eigene Behinderung überwinden. Dass sie im Grunde genommen repariert werden müssen.

Das ist Ableismus pur!

Ich frage mich nur, was das mit der Psyche eines Menschen macht, und weiß dabei schnell die Antwort.

Mir wird oft die Frage gestellt, was ich mir für mein Kind wünsche. Die Frage finde ich oft gut; sie zeigt eine Irritation, ein Erkennen, dass die Welt nicht für behinderte Kind vorbereitet ist.

Also wünsche ich mir, dass es wie jedes andere Kinder aufwachsen kann. Dass es an einem warmen Sommertag mit Freund*innen spielt und sich mal die Ellenbogen aufschürft und mit einem dreckigem Gesicht vom Spielen von mir getröstet wird. Dass es mit den Cousin*innen Unsinn treibt und vor Lachen spät abends im Bett bei einer Übernachtung mit Freund*innen nicht einschlafen kann. Dass es auch mal schimpfen darf, ohne dass irgendeine fiese Interpretation dessen gegeben oder gedacht wird. Dass es okay ist, wenn es wenige Stunden nach einer Operation mal nicht beim Röntgen kooperiert – oder auch grundsätzlich gerade da nicht kooperiert, wenn das Personal von dieser Abteilung oft ungeduldig mit ihr umgeht .

P.S.1: Es ist mir wichtig, dass mein Kind sich autonom entwickelt, gute Therapie bekommt und vieles neues lernt. Aber Autonomie soll nie ein Selbstzweck werden – und auch nicht eine Kompensation ihrer Behinderung.

P.S.2: Es geht mir nicht darum, Personen zu kritisieren, sondern Ideen und Einstellungen, die über meine Erfahrung und die meines Kindes hinausgehen. Vielmehr geht es mir um ein gesellschaftliches Phänomen.

3 Kommentare zu “Der Optimierungsdruck von Geburt an

  1. Genau, ich kenne diese Aussagen… Welches Kind muss genau diese Dinge, die du aufgezählt hast, immer wieder machen. Bei meinem Sohn wird oft angeprangert, dass er so ruhig ist und nichts sagt. Er musste auch schon vieles über sich ergehen lassen und es ist Teil seiner Überlebensstrategie. Aus diesem Teufelskreis habe ich uns irgendwann befreit. Ich bin keine Ärztin, Therapeutin, Orthopädin oder Sonstiges. Ich bin Mutter. Punkt.

  2. Pingback: „Könntest du nicht noch ein bisschen besser funktionieren?“ – inklusivdenken

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