So fing es an

by Gastbeitrag Kaiserinnenreich

Ein Gastbeitrag von Antje Christine. Auf Instagram unter @musik_fuer_mutter_erde .

Vor über 12 Jahren wurde unsere Tochter Amelie nach 22 Schwangerschaftswochen und 4 Tagen mit 410g geboren.

Als ich von meiner Schwangerschaft erfuhr, war ich sehr glücklich. Doch leider wurde dieses Glück bald durch eine Hyperemesis gravidarum, eine extreme Form der Schwangerschaftsübelkeit, getrübt. Ich konnte kaum etwas bei mir behalten und konnte kaum schlafen vor lauter Übelkeit. Dies hielt Monate an und mein Zustand verschlechterte sich zunehmend. Auf Grund von Komplikationen kam unsere Tochter schließlich viel zu früh zur Welt.

Bei der Geburt stand ich völlig neben mir. Ich wusste, dass unsere Tochter nur geringe Überlebenschancen hatte. Auch wurde uns vorab mitgeteilt, dass es bei einer sehr frühen Geburt zu schwerwiegenden Behinderungen kommen kann. Dies spielte keine Rolle für uns. Wir wollten, dass alles für sie getan wurde Direkt nach der Geburt musste ich operiert werden. Unsere Tochter wurde medizinisch maximal versorgt und kam in den Inkubator. Nach der Operation wurde ich zu ihr gebracht. Ich fühlte mich leer und hoffnungslos.

Tagsüber durfte ich nebem ihr am Inkubator sitzen. Sie war klein wie meine Hand. Die Augen noch geschlossen. Rausnehmen konnte man sie nicht, denn ihr Zustand war viel zu instabil. Also sang ich ihr Lieder vor, damit sie meine Stimme hören konnte und sich nicht alleine fühlte.

Die ersten Tage nach der Geburt durfte ich in meinem Zimmer in der Klinik bleiben. Dann wurde ich jedoch entlassen und in einem Gebäude nebenan untergebracht. Die nächsten Wochen und Monate sollte dies mein Zuhause sein. Getrennt von meinem Sohn und meinem Mann.

Kurz nach der Geburt unserer Tochter kam eine Krankenschwester in mein Klinikzimmer, um mir zu zeigen wie ich Muttermilch abpumpen konnte. Diese sollte unserer Tochter über eine Sonde zugeführt werden und die Überlebenschance erhöhen. Diese Beschäftigung war auch wichtig für mich, denn so hatte ich das Gefühl, etwas beizutragen. Doch schon in der nächsten Schicht kam eine andere Krankenschwester zu mir, die mir abriet, abzupumpen, mit der Begründung, dass ich abstillen müsste, sollte meine Tochter sterben. Das fühlte sich wie ein Schlag ins Gesicht an. Ich ließ mich nicht beirren und pumpte weiter ab.

Mir wurde schon frühzeitig von Personalseite mitgeteilt, dass durch die notwendige Beatmung/Intubation unserer Tochter Lungenschäden verursacht werden würden, die lebensbedrohlich werden könnten. Die Angst um meine Tochter schwebte ständig über mir.

Der behandelnde Oberarzt war ein freundlicher, empathischer Mensch, der sich sehr für Amelie einsetze. Für mich war er eine Konstante, die mir Sicherheit und Hoffnung gab. An seinem freien Wochenende übernahm die Oberärztin einer anderen Station. Sie trug immer schwarze Lackschuhe. Ich erinnere mich bis heute an das Klackern ihrer Schuhe auf dem Boden. An diesem Wochenende teilte sie uns mit, dass unsere Tochter eine Gehirnblutung entwickelt hätte und sie die nächsten Stunden wohl nicht überleben würde. Amelie wurde mittels Medikamenten ruhig gestellt, weil man davon ausging, dass sie Schmerzen hätte. Die Oberärztin versprach uns, uns vor den anderen Eltern und Besuchern abzuschirmen, um uns in Ruhe von unserer Tochter verabschieden zu können. Es war, als würde mein Herz zerrissen werden. Durch Stress und Trauer nahm auch der Milchfluss bei mir ab. Vor unserem 6 jährigen Sohn zeigten wir uns stark, doch in der Nacht weinte ich bitterlich. Das ganze Wochenende war ein fürchterlicher Albtraum. Montags war der behandelnde Oberarzt wieder da, welcher über den Stand der Dinge informiert wurde. Er wiederholte den Ultraschall des Kopfes und teilte mir mit, dass alles genauso wie vorm Wochenende sei. Die vorherige Diagnose war eine Fehleinschätzung gewesen. Es gab keine Gehirnblutung. Zu so einem frühen Zeitpunkt können Ultraschallbilder fehl interpretiert werden. Diesmal war es bei mir ein erleichtertes Weinen. Und doch war das Klackern der Lackschuhe in Zukunft für mich mit Angst und Unwohlsein verbunden. Eine Entschuldigung bekamen wir nie von der Oberärztin.

Nicht lange danach arbeitete der Darm unserer Tochter nicht mehr wie er sollte und sie musste operiert werden. Sie wog etwa 600g und mir war bewusst, dass sie die Op vielleicht nicht überleben würde. Wir warteten und warteten. Unsere Tochter überstand die Operation. Jedoch kam es anschließend zu Komplikationen. Der gelegte künstliche Darmausgang starb ab. An der Infektion wäre unsere Tochter fast verstorben. Mir blieb nichts anderes, als ihr meine Hände aufzulegen, um ihr Kraft zu spenden. Als sie in diesem kritischen Zustand war, wurde mir mitgeteilt, dass es beim Personal Stimmen gab, die dafür waren, die Geräte abzustellen. Ich lehnte ab und sagte, ich würde mir wünschen, dass alles getan werden sollte, so lange es Hoffnung gab. Amelies Zustand besserte sich und irgendwann war sie stabil genug, um erneut operiert werden zu können. Aber auch diesmal entzündete sich der Wundbereich. Auf Grund meines Wissens als Krankenschwester wusste ich, welches Verbandmaterial in solch einem Fall geeignet war. Ich setze gegen Wiederstände durch, dass ein bestimmtes Verbandsmaterial verwendet wurde, und die Wundverhältnisse verbesserten sich zusehens. Durch meine Einmischung hatte ich mir jedoch Feinde gemacht. Ich wurde zum Gespräch gebeten. Etwa 8 Menschen saßen vor mir, um mich einzuschüchtern. Mir schlug Feindseligkeit entgegen. Der chirurgische Chefarzt teilte mir unfreundlich mit, dass es durchaus dazu kommen könne, dass der Darm meiner Tochter noch absterben könne, was eine sofortige Operation nötig machen würde. Sie würden diese Op dann nicht vornehmen, da ich ihrem Können ja misstrauen würde. In einem solchen Fall müsste Amelie eben in eine andere Klinik verlegt werden. Von Seiten der Verwaltung kam der Einwand, dass man Amelie nicht die lebensrettende Maßnahme verweigern könne. Ich erklärte, dass ich nicht seinem Operationsgeschick misstrauen würde, sondern ich lediglich auf eine bestimmte Wundversorgung bestehen würde. Bei dem Gespräch blieb ich ruhig und so wie jeden Tag sagte ich mir innerlich: “Ich bleibe stark. Ich tue dies für Amelie.“

Amelies Darm starb nicht ab. Der Wundbereich heilte ab und sie begann sich zu erholen. Im Laufe der Wochen gab es immer wieder Krisen. Die Lunge arbeitete nicht mehr richtig und so konnte Amelies Körper nicht ausreichend Sauerstoff aufnehmen. Die Netzhaut der Augen löste sich und es drohte eine Erblindung. Amelie wurde per Hubschrauber in eine andere Klinik gebracht. Wir fuhren mit dem Auto hinterher. Es war erleichternd, als wir endlich nach Stunden bei ihr in der neuen Klinik ankamen. Informationen waren untergegangen und konnten von mir ergänzt werden. Amelies Augenlicht konnte trotz neuartiger Behandlungsmethode nicht gerettet werden. Nach mehreren Eingriffen, mussten wir uns auch dieser Gewissheit stellen.

Nach insgesamt 6 Monaten kamen Amelie und ich nach Hause. Sie brauchte noch 24h am Tag Sauerstoff und wurde mittels Monitor überwacht. Es lag eine kräftezehrende Zeit hinter mir und kräftezehrend war auch die Zeit, die vor mir lag. Ich kümmerte mich Tag und Nacht über Jahre. Oft am Rande der Erschöpfung. Dazu kamen Auseinandersetzungen mit der Krankenkasse, Behörden, Schulen, Menschen. Manchmal hatte ich das Gefühl, mein Name würde auf einer roten Liste stehen“Anträge dieser Mutter ablehnen“. Gleichzeitig versuchte ich, auch für unseren Sohn da zu sein, der gerade in die Schule gekommen war und Schwierigkeiten hatte, mitzukommen. Auch hier wurde uns kaum Verständnis entgegengebracht. Nach einer Beschwerde meinerseits wurde ich als hysterische Mutter abgetan, die auf Grund ihrer persönlichen Situation überfordert wäre.

Es wurde während der Klinikaufenthalte viel für Amelie getan, aber genauso sah ich dort und auf unserem weiteren Lebensweg menschliche Abgründe. Ich denke jedoch mit Wertschätzung und Dankbarkeit an den behandelnden Oberarzt zurück und auch die lieben Worte einer Krankenschwester, die selbst ein krankes Kind hatte, behielt ich in Erinnerung. Sie brachte mir ihr vollstes Verständnis und Empathie entgegen.

Wie anders sähe die Welt aus, wenn wir uns alle mehr Mitgefühl und Menschlichkeit entgegenbringen würden.

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