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Letzte Woche hat mich eine E-Mail überrascht. Andrea hat mich mit ihren Worten sehr berührt und ich fand, dass das, was sie mir mitgeteilt hat, hier im Blog mehr Platz verdient. Außerdem hat sie uns alle Mütter des Kaiserreichs angesprochen – also war die Mail nicht nur für mich, auch wenn sie in meiner Mailbox gelandet ist. Mit ihrer Absprache veröffentliche ich hier ihre E-Mail für euch.
Ich persönlich war schon immer sehr neugierig auf die Erfahrungen und Erzählungen von pflegenden Eltern, die wie Andrea seit Jahrzehnten pflegen. Wie haben sie damals die Unterstützung ihres Umfeldes erfahren? Hatten sie das Gefühl, die Politik an ihrer Seite zu haben? Deshalb habe ich vor drei Jahren den Elternfragebogen speziell für pflegende Eltern “die schon lange im Geschäft sind”, entwickelt. Bisher haben nur Martina und Barbara daran teilgenommen – und wie ich diese beiden Beiträge liebe! Aber jede*r ist willkommen, seine*ihre Erfahrungen mit uns zu teilen.
“Liebe Mütter des Kaiserinnenreiches,
beim Durchzappen der WDR-Mediathek bin ich durch Zufall auf einen Beitrag von Euch bzw. von Bárbara gestoßen und würde mich gerne einfach mal bei Euch melden bzw. vorstellen. Eigentlich bin ich als pflegende Mutter „schon länger im Geschäft“, fühle mich in manchen Situationen aber immer wieder wie am Anfang…
Ich heiße Andrea, bin seit einem Montag im März diesen Jahres 60 Jahre alt (was für eine Zahl; das erste Mal fühlte ich mich alt), bin nächstes Jahr 30 Jahre verheiratet und lebe mit meiner Familie am nördlichen Bodensee. Meine Kinder sind inzwischen 27, 25 und 20 Jahre alt, wobei nur unsere Jüngste noch offiziell bei uns wohnt, da sie im Moment das letzte Jahr ihrer Ausbildung als Hotelfachfrau in Konstanz absolviert.
Unsere älteste Tochter (unser Sohn ist dazwischen) kam im Februar 1997 mit Apgar-Werten von 9/10/10 und damit offiziell gesund auf die Welt und nach 10 Tagen hieß es aber: „Seien Sie froh, dass ihr Kind überhaupt noch lebt. Sie wird nie sprechen und laufen können“. Gut, das macht sie inzwischen beides auf ihre eigene Art, wird aber nie ein eigenständiges Leben führen können und immer auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sein. Schlimm war aber damals, dass während der sechswöchigen Zeit meiner Tochter auf der Neonatologie und auch fast ein Vierteljahr danach ich mein Kind nicht mit Namen ansprechen konnte, mich wie ein Roboter verhielt und jede Nacht davon träumte, wie ich bei einem evtl. Tod reagieren würde.
Man wird nicht als Mutter geboren, das muss man lernen, und ich hatte ja keine Vergleiche mit anderen Kindern.
Später habe ich oft meinen Sohn bewundernd beobachtet, der von allein sich drehen konnte und Bewegungen machte, ohne dafür Wochen in die Physio zu müssen.
Offiziell hat unsere Tochter nun also eine spastische Halbseitenlähmung links aufgrund einer vorgeburtlichen Hirnblutung im sog. Generalcortex, einen damit verbundenen Gesichtsfeldausfall, ein von mir geerbtes fehlendes räumliches Sehen, eine Epilepsie (trotz einer Hirnoperation in Bayern mit 14 Jahren), eine Nierenfunktionsstörung aufgrund der vielen Medikamente und eine Form von Autismus („Asperger-Syndrom“) mit fehlender Empathie und Gefühlsäußerung – Wutausbrüche funktionieren aber super!
Ich selbst bin seit ihrer Volljährigkeit ihre Gesetzlicher Betreuerin, habe vor einigen Jahren ein Behinderten-Testament verfassen lassen und bin vor allem aber Mutter. Diese „Funktion“ wird auch bis zu meinem Lebensende so sein, selbst wenn ich die offizielle Betreuung eines Tages abgeben sollte z. B. aufgrund von Krankheit. Von Geschwisterkindern kann und will ich nicht erwarten, dass sie diese Aufgabe übernehmen, denn sie haben ihr eigenes Leben und ihre eigenen Träume, die durch so eine Aufgabe nie eingeschränkt werden dürfen. Sollten Sie aber irgendwann eines Tages (wahrscheinlich eher meine jüngste Tochter) selbst den Wunsch äußern, würde ich mich natürlich freuen. Kein Mensch hat sich die Situation ausgesucht oder kann etwas dafür, muss aber das Beste daraus machen…
Ich bin seit vielen Jahren Mitglied im BVKM (Bundesverband Körper- und Mehrfachbehinderter) und im LVKM (Landesverband) von Baden-Württemberg. Vom BVKM gibt es eine sog. “Mütterwerkstatt“, die ich mir an Eurer Stelle auch mal anschauen würde und vor allem auch die Website des Verbandes. Man kann sich dort auch aufnehmen lassen. Die haben seinerzeit auch Geschwisterfreizeiten angegeben und Workshops für Eltern von Kindern mit Behinderung. Vielleicht gibt es das ja immer noch; fand ich immer toll und informativ. Und in Bayern gibt es auch den VdK.
Wenn ich auf die Vergangenheit zurückblicke, bestanden diese Jahre aus unzähligen Klinikaufenthalten im Rahmen von diversen OP’s , Anfällen mit Notarzt und Intensivstation, Lungenentzündungen, Reha-Aufenthalten, Risiken und Grenzsituationen bis zum Abwinken u. ä. Es bestand aber auch aus tiefgreifenden Entscheidungen (unsere Tochter mit 10 Jahren unter der Woche in ein fast zwei Stunden entferntes Schulinternat zu geben (gesunde Kinder fahren in Eltern-Taxis…), gefühlt dauernden Rechtfertigungen („Diese Art von Behinderung hatten wir noch nie“), Entschuldigungen („Sorry, dass man meinem Kind nichts ansieht und es auch nicht im Rolli sitzt“) und unzähligen Kämpfen mit Behörden, Krankenkassen und Gerichten (mit 14 Jahren kam das Reha-Fahrrad weg; „in dem Alter braucht man kein Fahrrad mehr“…, mit 16 der Behinderten-Parkausweis „sie sitzt ja nicht im Rolli“) usw. Ach ja, und der Kampf mit dem Betreuungsgericht jedes Jahr („wann verwächst sich denn die Behinderung und die Betreuung ist nicht mehr notwendig“?; bei einer vorgeburtlichen Hirnschädigung, ha ha!) und mit der Kindergeldstelle alle vier Jahre („ihr Kind hat doch jetzt das Alter „X“ und müsste mit Schule, Ausbildung u. ä. fertig sein“…).
Im Laufe der Jahre wurde ich zu einer chronischen Blutdruck-Patientin, leide unter LongCovid (ich hatte Corona eine Woche vor dem Impftermin für Pflegende Angehörige), was sich bei mir auf das Nervensystem auswirkt; d. h. kein Kurzzeitgedächnis mehr, das Vergessen von Namen und Orten, Konzentrationsschwäche (ganz toll bei Anträgen, Telefonaten und beim Schreiben von alljährlichen Betreuungsberichten) und Depressionen aufgrund von Antriebslosigkeit. Inzwischen nehme auch ich unzählige Medikamente, bekomme Ergotherapie und Psychotherapie aufgrund einer Erschöpfungs-Depression.
Ich habe also über 27 Jahre nur funktioniert und nicht an mich gedacht.
Also, wie oft fühle ich mich auch heute noch wie am Anfang, weil ich kein Ende am Licht des Tunnels sehe. Kleinere Kinder bekommen irgendwie mehr genehmigt und stoßen auf mehr Verständnis; meistens jedenfalls.
Es gibt aber auch ganz viel Positives zu berichten. Nach vielen vergeblichen und falschen Praktika hat meine Große einen Platz in einer Nudelmanufaktur gefunden und wohnt unter der Woche in einer Form des Betreuten Wohnens. Und selbst, wenn sie sich gefühlsmäßig nicht so „vorschriftsmäßig“ äußern kann, so überrascht sie mich doch mit folgenden Aktionen: Letztes Jahr fand ich am Abend des Muttertages auf ihrem Bett einen Bilderrahmen mit einem Foto von ihr und mir und eine kleine Karte mit Worten in ihrer Art so ungefähr: “Mama, ich hab dich lieb und danke, dass du für mich da bist“. Da liefen mir dann wirklich die Tränen herunter und ich finde wieder Kraft für die weiteren Kämpfe in unserem Leben.
Unterm Strich habe ich gelernt, dass man sich selbst Hilfe und Unterstützung holen muss und dass man nur durch Eigeninitiative aus dem Sumpf herauskommt. Und der Bekannten- und Freundeskreis lichtet sich sehr schnell und auch in der eigenen Familie muss sortiert werden.
Umgebt Euch nur mit Menschen, die Euch gut tun, die Euch als Menschen mit Ängsten, Schwächen und Bedürfnissen sehen. Schaut auf euch selbst und schafft euch Nischen, denn nur mit Ausgeglichenheit und neuer Kraft helft ihr euren Kindern.
Seid in Gedanken umarmt und gegrüßt vom Bodensee,
Andrea Schweizer mit Familie.
Wie mir Andrea aus der Seele schreibt ❤️ ich pflege auch seit 20 Jahren meine Tochter, seit drei Jahren ist aber die Situation mit einer neu aufgetretenen nicht einstellbaren Epilepsie besonders schwierig geworden. Alles, was wir uns vorgenommen haben, wenn unsere Kinder erwachsen sind, zerplatzt gerade wie eine Seifenblase. Auch der Freundeskreis verändert sich, es ist schwierig Menschen zu finden, die in dieser Situation zu einen stehen. Ich würde auch gerne den Fragebogen ausfüllen. LG Andrea
Hallo,
Ich pflege seit 12 1/2 Jahren mein Herzkind. Wenn das lang genug ist, fülle ich gerne den Fragebogen aus, ich kann ihn auch sehr gerne weiter geben ( ich bin Teil einer Elterninitiative), wenn Du sagst, wie viele Jahre dein Minimum sind. Herzliche Grüße, Claudia
Hallo! Ich bin auch ” so Eine”…Werde gern Euren Fragebogen auch ausfüllen. Ich bin 66 J.alt,habe von 1991 bis 1996 meine Oma gepflegt und ziemlich direkt im Anschluss meine Pflegetochter(Trisomie 21 und Moyamoyasyndrom). Inzwischen pflege ich sie seit 28 Jahren. Bin ursprünglich Kinder- und Allgemein- Krankenschwester,war vorher 10 Jahre in einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen tätig.Während der Pflege meiner Tochter hab ich bis 2017 in der inklusiven Kindertagespflege gearbeitet.
Schickt mir also gern den Fragebogen und ich freu mich auf neue Kontakte !
Liebe Grüße von Kerstin Kiel aus Hamburg!
Liebe Kerstin, ich schicke dir gerne den Elternfragebogen zu! Sehr schön, dass du dich gemeldet hast. LG, Bárbara
Ich danke dieser Frau sehr herzlich – pflege ich doch seit 48 Jahren meinen Sohn und seit 43 Jahren meine Tochter. Beide sind auf den Rollstuhl angewiesen und kognitiv beeinträchtigt.
Ich schreibe ein eigenes Weblog und bekomme immer wieder Steine in den Weg gelegt. Vielleicht guckt ihr ja mal bei mir vorbei!? Liebe Grüße, piri
Bitte, könnt ihr mir auch den Fragebogen schicken!