Petra ist Mutter von zwei erwachsenen behinderten Kindern. Sie sind 48 und 43 Jahre alt, d.h. Petra ist seit fast 50 Jahren pflegende Mutter! Ihre Kinder leben bei ihr zu Hause und seit fast 12 Jahren, seit dem Tod ihres Mannes, trägt sie die alleinige Verantwortung für beide Kinder.
Welche langfristige Dimension die Pflege für Eltern behinderter Kinder bekommen kann, sehen wir hier an Petras Antworten. Denn für viele von uns kann sich diese Aufgabe über Jahrzehnte hinziehen, vor allem wenn Familien wie die von Petra viel zu wenig systematische Unterstützung erhalten, was in unserer Gesellschaft anscheinend immer noch selbstverständlich ist. Familien mit pflegebedürftigen Kindern – egal wie alt sie sind – müssen für vieles kämpfen, was zusätzlich zu dem Pflegealltag zu noch mehr Belastung führen kann.
Woher kommt diese gesellschaftliche Selbstverständlichkeit, dass eine Mutter in diesem Ausmaß privat und auf eigenen Kosten die Verantwortung für ihre erwachsenen behinderten Kinder übernehmen muss? Wer soll sie unterstützen, ist aber offenbar nicht an ihrer Seite? Der Anspruch an Unterstützung ihrer Kinder steht außer Frage, sie brauchen Hilfe und Pflege im Alltag. Aber ob Petra in ihrer Rolle als pflegende Mutter von zwei behinderten Kindern ebenfalls Hilfe braucht und in ihrer Grenze ist, muss endlich gesehen werden!
Petra ist eine von vielen von uns. Sie liebt ihre Kinder, teilt manche erlebte Situation mit Humor und gleichzeitig sind ihre Ressourcen begrenzt – denn sie ist, Überraschung!, wie wir alle auch nur ein Mensch! Auf die Frage, ob sie sich von Politik und Gesellschaft ausreichend unterstützt fühlt, antwortet sie klar und deutlich: Nein, ganz klar nein!
Wenn ihr mehr über Petras Alltag lesen wollt, teilt sie viele ihre Gedanken auf ihrem Blog “voller Worte“.
Name: Petra Ulbrich
Alter: 68
Mutter von: Carsten (48) und Wiebke (43)
Beruf: Schriftsetzerin und Erzieherin
Wie war dein Leben, bevor deine Kinder kamen? Gute Frage. Ich habe ja meinen Sohn sehr früh bekommen und hatte gerade erst zwei Jahre in meinem ersten erlernten Beruf gearbeitet. Als Älteste von sechs Geschwistern war ich es gewohnt Vorreiter zu sein. Ich hatte aber auch schon eine Menge Aufgaben zu erfüllen, zum Beispiel habe ich meine jüngste Schwester mit großgezogen (was für ein Wort, ich habe sie nicht gezogen, ich habe sie liebevoll begleitet). Eigentlich wäre ich gerne Goldschmiedin oder Schauspielerin geworden – hat nicht sollen sein und es ist auch okay, mein Leben vor den Kindern war turbulent genug.
Wie war dein Leben, als deine Kinder da waren? Völlig anders. Ich war noch keine 20 Jahre alt, als mein Sohn geboren wurde. Die Ärzte sagten damals kurz nach der Geburt: Es wäre besser dieses Kind würde nicht lange leben, mit diesen Missbildungen hat es sowieso keine Chance. Ich habe mein Kind nicht sehen dürfen und als ich fragte, was es denn sei, kam auch nur eine flapsige Antwort: Wir wissen nicht, ob es ein Junge oder Mädchen ist! – Carsten hatte und hat immer noch eine Blasenmissbildung. Wiebke ist 5Jahre und 2Tage nach Carsten geboren. Schon in dieser Schwangerschaft wusste ich – ich ahnte es nicht nur, ich wusste es, dass dieses Kind ebenfalls behindert zu Welt kommt. Sie hatte sogenannte Gedeihstörungen, wuchs nicht richtig im Mutterleib und ich hatte strenge Bettruhe.
Wie sieht dein Alltag heute aus? Anstrengend.
Wann und wie hast du von der Behinderung deiner Kinder erfahren? Schon kurz nach der Geburt war sehr offensichtlich, dass mein Sohn behindert ist. Eine Blasenekstrohie ist nicht zu übersehen und das Geburtsgewicht war eher gering, wenn auch nicht zu wenig. Bei meiner Tochter stand schon während der Schwangerschaft der Verdacht auf eine Behinderung im Raum.
Inwiefern sind deine Kinder behindert? Die genaue Bezeichnung der Behinderung meiner Kinder weiß ich nicht. Es ist eine Vielzahl von verschiedensten Beeinträchtigungen: Glasknochen, Kleinwuchs, kognitive Einschränkungen, Tetraspastik, MOPD Typ1 (das steht immer noch nicht fest, weil so manches von diesem Syndrombild auf meine Kinder nicht zutrifft), sie sitzen beide auf dem Rollstuhl, Wiebke ist Autistin und Carsten ist das genaue Gegenteil. Er ist unser Kommunikator, er quatscht Menschen an und schafft Kontakte. Möchte Kontakte schaffen, aber viele Leute überhören und übersehen ihn. Wenn ihr mögt, schaut eure mein Blog an; ich berichte fast täglich aus unserem Leben. voller worte
Welche sind deine glücklichsten Erinnerungen mit deinen Kindern? Unmöglich alle glücklichen Momente zu erzählen. Es gibt so viele!
Was oder wer hat dir damals und heute Kraft gegeben, durch die Herausforderungen zu gehen? Keine Ahnung, ich habe wirklich keine Ahnung, woher ich die Kraft nehme. Mein Mann ist vor fast 12 Jahren an einem Aortenaneurysma gestorben, ganz plötzlich. Da habe ich kurz aufgehorcht und gedacht, ich hätte keine Kraft mehr. Aber das Leben geht weiter, geht immer weiter und wenn man etwas mit Liebe macht, dann geht’s auch gut. Natürlich gibt es verzweifelnde Phasen und dann gucke ich mir das an, was ich bisher geschafft habe, und es geht in Liebe weiter.
Viele Eltern von behinderten Kindern berichten, dass sie sich von ihrem Umfeld nicht immer verstanden fühlen. Wie war es für dich damals? Hast du dich von deinem Umfeld gut verstanden gefühlt? Vor 48 Jahren waren andere Zeiten. Meine Eltern und Schwiegereltern haben ihre Enkelkinder angenommen, wie sie waren. Im Umfeld gab es schon manches Mal komische Blicke, besonders dann, als ein zweites behindertes Kind da war.
Fühltest du dich früher und heute als Familie mit zwei Erwachsenen behinderten Kindern ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt? Nein, ganz eindeutig Nein!
Wie war damals bei euch die Kinderbetreuung organisiert? Ich bin daheim geblieben, habe, als Carsten in den Sonderpädagogischen Kindergarten gegangen ist, eine Erzieherinnenausbildung gemacht. Es war verdammt anstrengend, zumal mein Mann parallel seine Meisterprüfung anstrebte.
Wo hast du früher mit deinen Kindern Unterstützung gebraucht, aber keine bekommen? Was hat das für dich bedeutet? Inklusion war damals ein Fremdwort. Als mein Mann noch lebte, haben wir uns die Zeiten geteilt und mein Vater hat viel mit seinen Enkeln unternommen. Ich hatte auch viel mehr Energie, als heute – ich habe viel machen können und die Kinder einfach mitgenommen. Ich mache alles privat – heute wie gestern! Zum Glück bin ich körperlich fit und nur altersgemäß krank. Das eine oder andere Wehwehchen…
Wo fehlt dir heute an Unterstützung für deine Kinder? Was bedeutet das für dich als pflegende Mutter? In der Freizeitbegleitung fehlen mir Assistenzkräfte an allen Ecken und Kanten. Wir würden gerne viel mehr unternehmen. Ich organisiere alles und komme dabei selbst zu kurz. Eben mal schnell ins Theater gehen, oder abends auf ein Glas Wein mit Freunden ist nicht drin – alles muss geplant und organisiert sein.
Wo leben deine Kind heute? Beide leben bei mir. Sie waren kurzzeitig ausgezogen, aber das Wohnheim war nicht das geeignete – wunderbares Gebäude, aber leider gab es dort – Originalton Carsten: niemanden mit dem er sich streiten konnte, weil alle anderen zu sehr geistig behindert sind.
Wie geht es dir gesundheitlich nach so vielen Jahren Pflegeverantwortung auf deine Schulter zu tragen? Zum Glück ist das kein Problem. Natürlich fällt es mir nicht mehr so leicht, wie am Angang. Mein Sohn muss sondiert werden, nachts gehe ich noch einmal in die Zimmer und lagere sie beide um – sie sind zum Glück nicht sehr schwer, aber es ist dennoch keine Spaßarbeit. Ich mach’s mit Liebe!
Inklusion war damals kein Begriff, wie wir ihn heute nutzen. Hast du aber trotzdem für Teilhabe gekämpft? Falls ja, kannst du uns von einer Situation berichten? Engagiert war ich immer, wir haben unsere Junioren überall mitgenommen. Auf Konzerte, Ausflüge und sogar Bergtouren. Eines Winters durften sie sogar mit der Pistenraupe auf eine Skihütte fahren.
Bist du die Mutter, die du sein wolltest? Ja
Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest: Würdest du etwas anders machen, als Mutter? Garantiert, aber das ist Vergangenheit und Schnee von gestern.
Wenn du könntest, welchen Gegenstand deiner Kinder würdest du ewig aufbewahren? Von meinem Sohn habe ich die erste selbstgestrickte Jacke und von meiner Tochter das Taufkleid.
Was würdest du einer jungen Mutter sagen, die heute eine ähnliche Situation lebt, wie du damals? Mach einfach, vertrau auf deinen Instinkt, tu es mit Liebe, dann machst du alles richtig.
Welche Träume möchtest du noch verwirklichen? Alt werden, meine Gedichte veröffentlichen, meinen Junioren eine gute Wohnmöglichkeit erschaffen und ihnen ein Leben ermöglichen, in dem sie weitestgehend ein selbstbestimmtes glückliches unabhängiges Leben haben.
- Und wie machst du das Petra? - 12. Juni 2024
- So fing es an - 24. Mai 2024
- #mehrals28Tage – eure Stimmen und Geschichten – Teil 1 - 30. April 2024
Dein Leben und deine Berichte davon, die mit viel Liebe geschrieben sind, berühren mich sehr.
Ich denke, dass es dich erleichtert, von deinem Alltag zu erzählen.
Dir wünsche ich weiterhin viel Kraft und die nötige körperliche und seelische Robustheit, um deinen Kinder die nötige Stütze zu sein.
Alles Liebe für euch
Poldi
Ich liebe dich
Deine kleine Schwester
Berührendes und beeindruckendes Porträt!
Wow, was für eine tolle Frau! Sie hat Beeindruckendes geleistet und leistet es immer noch. Traurig, dass sie nicht mehr Hilfe bekommen hat. Ich wünsche den dreien alles erdenklich Gute.
wow,liebe Petra ! Mit welcher Fröhlichkeit und Leichtigkeit sprichst Du über euer Leben ! Und wie selbstverständlich stehst Du dazu,dass Deine Kinder wieder bei Dir leben ! Sicherlich hat deine “Unverwüstlichkeit” einen grossen Anteil daran,dass es Dir nach wie vor gesundheitlich gut geht. Ich versuch mal,mir daran ein Beispiel zu nehmen…Bin ” erst ” 66 und pflege meine Pflegetochter seit 28 Jahren und davor meine Oma 5 Jahre. Ich wünsch Euch Dreien weiter möglichst fitte,fröhliche Zeiten und reichen Segen auf Eurem Miteinander ! Liebe Grüße von Kerstin aus Hamburg
Liebe Petra, Du bist „Jemand „ zu der man hoch schauen kann.
Alle Achtung.
Pingback: woanders – voller worte