Stell dir vor, du hast endlich einen heiß begehrten Kita-Platz für dein Kind bekommen, und dann darf es doch nicht hingehen. So ergeht es aktuell vielen Eltern in NRW, deren Kinder eine schwere Behinderung haben und daher auf eine Inklusionskraft, sogenannte Kita-Assistenz, angewiesen sind. Ohne diese 1:1-Betreuung ist es für die Kinder unmöglich, am Kita-Alltag teilzunehmen und Teil der Gemeinschaft zu sein.
Meine vierjährige Tochter Fritzi ist aufgrund eines seltenen Gendefekts schwer mehrfachbehindert. Sie ist das einzige schwer behinderte Kind in ihrer Kita. Sie kann nicht sprechen, nicht laufen, nicht alleine sitzen, nicht alleine essen oder trinken. Ohne ihre geliebte Inklusionskraft Janna könnte sie nicht dorthin gehen. Janna tanzt mit ihr, malt und bastelt mit ihr, stützt sie, wenn sie laufen will, und übersetzt ihre Körpersprache für die anderen Kinder. Sie ist Fritzis Schlüssel zur Kita-Welt. In den letzten zwei Jahren wurde uns die Assistenz ohne Probleme in der notwendigen Stundenanzahl bewilligt. Doch 2024 mussten wir uns sorgen.


Aber der Reihe nach: Jedes Jahr müssen wir Eltern Wochen bis Monate vor Beginn des neuen Kitajahres am 1. August einen Antrag auf Kostenübernahme der Kita-Assistenz stellen. Es gibt ein Bedarfsermittlungsgespräch, bei dem die benötigte Stundenanzahl festgelegt wird. Normalerweise erhält man nach einiger Zeit die Zusage und atmet auf. Dass es schon schwer genug ist, überhaupt eine geeignete Assistenzkraft zu finden, sei nur am Rande erwähnt – das ist ein Problem für sich.
Für uns war der Kita-Besuch ein echter Glücksfall. Schon im ersten Jahr haben wir gesehen, wie sehr Fritzi von den anderen Kindern profitiert hat, obwohl sie nicht proaktiv mitmachen kann. Sie war dabei, hat beobachtet, und die Kinder haben sie einfach so akzeptiert, wie sie ist. „Fritzi ist Fritzi“, sagen sie – das ist wahre Inklusion.
Doch 2024 ist beim Landschaftsverband Rheinland (LVR) alles anders. Mitarbeiter:innen sind unerreichbar, bearbeiten Anträge verspätet, gehen während des Bewilligungsprozesses in Urlaub, und dann werden die beantragten Stundenkontingente plötzlich drastisch gekürzt – zum Teil so sehr, dass es nahezu unmöglich ist, eine Kita-Assistenz zu finden. Organisationen, die früher Kita-Assistenzen vermittelt haben, müssen Personal entlassen oder ziehen sich komplett zurück. Was bleibt, sind verzweifelte Eltern, deren Kinder nicht mehr in die Kita können. Eltern, die um die finanzielle Sicherheit ihrer Familien bangen und um die emotionale sowie soziale Entwicklung ihrer Kinder fürchten.

Im Düsseldorfer Elternnetzwerk „Gemischte Tüte e.V.“, wo sich Eltern von Kindern mit lebensverkürzenden oder chronischen Erkrankungen austauschen, ist die aktuelle Praxis des LVR ein großes Thema. Eine Umfrage des Vereins Anfang August brachte erschreckende Ergebnisse:
- Am 1. August 2024 hatten über 50% der befragten Eltern noch keinen gültigen Bewilligungsbescheid.
- 55% der Bescheide wiesen eine Stundenkürzung auf.
- Durchschnittlich wurden 8 Stunden pro Woche gekürzt, in einem Fall sogar 25 Stunden!
Die Konsequenzen sind teilweise verheerend. Hier zwei Beispiele aus der Umfrage:
„Ich fange als Alleinerziehende im September wieder an zu arbeiten und da ich keine Betreuungsalternative habe, ist die Angst groß, dass die Betreuung in der Kita mit den gekürzten Stunden nicht gewährleistet werden kann und ich dann resultierend daraus meinen Job nicht antreten kann.“
“Ohne Assistenz darf unsere Tochter gerade 2 ½ Stunden in die Kita. Dies sorgt bei uns für Dienstausfälle und ziemliche Einschränkungen. Dazu fehlt unserer Tochter die Zeit in der Kita und die daraus resultierenden sozialen Kontakte.“
Auch wir haben vor Antragstellung von anderen Eltern im Netzwerk von den Problemen beim LVR gehört und uns große Sorgen gemacht. Wir ließen uns rechtzeitig anwaltlich beraten und schalteten kurz vor dem Kitajahresbeginn sogar eine Mediatorin über unsere Rechtsschutzversicherung ein. Ob das den Ausschlag gab, weiß ich nicht, aber wir haben die volle Stundenzahl bewilligt bekommen. Doch diese Belastung – diese Angst, alles könnte scheitern – möchte ich nie wieder erleben.
Der LVR hat ein Haushaltsdefizit. Doch das auf dem Rücken schwerbehinderter Kinder und ihrer Familien auszutragen, ist schlichtweg eine Schande! Jetzt sind der LVR, die Mitgliedskörperschaften und die Landespolitik gefragt, Lösungen zu finden, die nicht ausgerechnet die Schwächsten treffen – jene, die ohnehin schon an allen Fronten kämpfen müssen. Denn eines ist klar: Das gesamte System aus Krankenkassen, Medizinischem Dienst, Pflegekassen und Eingliederungshilfen lässt uns Eltern mit schwerbehinderten Kindern an vielen Stellen im Stich.

Zur Autorin
Silke Ladnar-Duckwitz (auf Instagram @frau.ladnar) ist Mutter der schwerbehinderten Fritzi. Zusammen mit Fritzis zweiter Mama arbeitet sie Teilzeit, weil die Betreuung und Förderung ihrer Tochter anders nicht zu organisieren wäre. Silke weiß aus leidvoller Erfahrung, dass Eltern in Deutschland für die Rechte ihrer beeinträchtigten Kinder an allen Seiten kämpfen müssen. Bereits im Alter von zwei Jahren brauchte Fritzi eine Anwältin, um ihren Anspruch auf eine Krankenkassenleistung durchzusetzen. Seitdem hat die Familie eine Rechtsschutzversicherung – ein trauriger Beweis dafür, wie unser System funktioniert.
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