Kindergerechte Medizin: Eine Utopie? Nein, ein Recht für alle Kinder!

by Bárbara Zimmermann

Als Menschen mit Rechten haben Kinder jeden Alters – und ganz egal ob mit oder ohne Behinderung und unabhängig von der Art der Behinderung – das Recht auf medizinische und therapeutische Behandlung, auf angemessene Kommunikation während dieser Behandlung, auf Äußerung ihrer Meinung und auf Berücksichtigung dieser Meinung bei Behandlungsentscheidungen. Doch wie sieht dies in der Praxis aus?

So sollte dies eindeutig NICHT aussehen:

Letzten September hatte meine Tochter einen MRT-Termin. Es war das erste MRT, das sie wach und ohne Sedierung erleben sollte. Wir hatten uns gut vorbereitet – mit einem Kinderbuch und YouTube-Videos, um sie auf das Erlebnis vorzubereiten. Anfangs war sie nervös, aber auch mutig, weil sie sich entschieden hatte, die Untersuchung so zu machen. Ich war sehr stolz auf sie, machte ihr aber auch klar, dass sie jederzeit rufen konnte, wenn sie Angst hätte.

Wir kamen pünktlich in der Klinik an, mussten aber an diesem Tag das tun, was man in einer Klinik meistens tut: warten. Überraschung Nr. 1: Statt um 8 Uhr, wie geplant, wurde es 13 Uhr, bis wir endlich dran kamen. „Ein Notfall nach dem anderen und wir haben nur zwei MRT-Geräte für das gesamte Untersuchungsspektrum der Uniklinik“, hieß es. Oder eher: Pflegekrise und Personalnotstand?

Die Bedingungen für mein Kind waren alles andere als ideal. Als ich die Ärztin fragte, ob meine Tochter während des MRTs Kopfhörer mit einem Hörspiel bekommen könnte, wie ich von anderen Eltern auf Instagram und WhatsApp-Gruppen schon gelesen hatte, hieß es nur: „Das haben wir nicht, aber ich kann das Radio anmachen“. Überraschung Nr. 2.

Dreizehn Uhr: Endlich war es soweit. Die Arzthelferin besprach mit meinem Kind den Ablauf der Untersuchung. „Das dauert höchstens zwanzig Minuten, das schaffst du schon“, sagte sie freundlich.

Die Untersuchung begann. Doch Überraschung Nr. 3: Es dauerte fast eine ganze Stunde.

Irgendwann zwischen Shakira und Ed Sheeran – oder ähnliches – kam bei FFN eine Nachricht: Amoklauf in einer Hamburger Schule. Tolle Information für eine Sechsjährige, die in einem Rohr liegt, aus dem extrem laute Töne kommen, und still liegen sollte. Kein Wunder, dass sie anfing zu weinen. Sie war in Panik. Die Untersuchung musste schließlich durch Sedierung fortgesetzt werden. Überraschung Nr. 4!

Es war bereits 14.30 Uhr, ich saß müde im Flur vor der Tür des Behandlungszimmers, in dem meine Tochter sediert untersucht wurde, und war extrem frustriert – nicht über mein Kind, natürlich, sondern über die unzureichenden kindgerechten Bedingungen dieser Untersuchung.

Die Hürden der kindergerechten Medizin

Es kann sein, dass Kindergerechte Medizin oft in den Medien thematisiert wird, aber die Umsetzung bleibt in der Praxis hinter den Erwartungen zurück. Laut einer Studie der Fachhochschule Potsdam liegt das an strukturellen und zeitlichen Mängeln. Das betrifft die gesamte Medizin dieses Landes, aber in der Kinder- und Jugendmedizin ist es besonders ausgeprägt. In Deutschland gibt es zu wenig Nachwuchs unter den Pädiater*innen und eine unzureichende Förderung in diesem Bereich. Außerdem ist die Zulassung vieler Arzneimittel in der Pädiatrie oft mangelhaft, weshalb sie den Kindern und Jugendlichen häufig außerhalb der offiziellen Zulassung (off-label) verschrieben werden müssen, ohne dass die Sicherheit und Wirksamkeit speziell für Kinder geprüft wurde, was noch mehr auf die Vulnerabilität der jüngeren Patient*innen hindeutet. (Wie schlimm ist das, bitte???)

Zudem ist die Kindermedizin sehr personal- und kostenintensiv. „Wenig planbare Leistungen bei einem breitem Leistungsspektrum und hohe Notfallquoten, sowie der wirtschaftliche und gewinnorientierte Gedanken, lassen viele Kinderkliniken und Abteilungen rote Zahlen schreiben“, erklärt Sabrina Oppermann, Vorsitzende des Aktionskomitees Kind im Krankenhaus, in einem Text über Rechte kranker Kinder.

Das heißt aber nicht, dass wir Eltern nur Verständnis für diese Komplexität aufbringen sollten. Hätten wir das in der Vergangenheit getan, wären wir heute nicht in der Lage, jederzeit bei unseren Kindern im Krankenhaus zu sein. Was heute selbstverständlich ist, ist das Ergebnis eines langen politischen und gesellschaftlichen Kampfes.

Warum Partizipation so wichtig ist

Kranke Patient*innen sind per se vulnerabel. Sie sind auf medizinische Versorgung und Hilfe angewiesen. Bei kranken Kindern ist die Vulnerabilität aufgrund des Alters und des Abhängigkeitsverhältnisses zu Erwachsenen noch ausgeprägter. Und im Falle einer Behinderung steigt diese Abhängigkeit und das Risiko, dass die eigenen Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden, noch deutlicher. Gerade unter Menschen mit einer geistigen Behinderung ist das leider noch auffälliger.

Die wiederholte Konfrontation mit der eigenen Erkrankung hinterlässt Spuren, positive wie negative. Kinder, die regelmäßig behandelt werden, entwickeln oft eine enorme Fachexpertise, die weit über dem ihrer Gleichaltrigen liegt. Einige werden dadurch resilient, andere leiden darunter und können davon traumatisiert werden, je nach Verlauf der Erfahrungen. Daher ist eine gute Kommunikation zwischen Kindern und Gesundheitsfachkräften für diese Kinder, die ihre Kindheit wiederholt oder sogar über einen längeren Zeitraum in medizinischen Einrichtungen verbringen, von entscheidender Bedeutung. Ihre Beteiligung sollte ein zentraler Bestandteil der Behandlung sein.

Kinder sollten nicht nur informiert, sondern auch aktiv in Entscheidungen einbezogen werden. Das stärkt ihr Vertrauen und hilft, Ängste und Widerstände abzubauen. Denn Widerstände richten sich oft nicht gegen die Behandlung selbst, sondern gegen die Bedingungen – zum Beispiel Angst, Unsicherheit oder Schmerzen. Und andersrum, wenn Kinder in den Entscheidungsprozess einbezogen werden, können viele dieser Ängste frühzeitig erkannt und adressiert werden, was den Ablauf für alle Beteiligten erleichtert und Zeit sowie Kosten sparen kann.

Ich bin mir bewusst, dass dies nicht immer einfach ist. Zeit und Offenheit sind gefragt. Wenn ein Kind beispielsweise nonverbal ist, wird die Herausforderung größer, aber das ist niemals ein Grund, seine Bedürfnisse nicht zu berücksichtigen!

Ein Beispiel, wie es GUT verlaufen kann

Zwei Monate nach der MRT-Untersuchung meiner Tochter stand eine geplante Operation für sie an. Ich war besorgt, dass sie sich an das MRT von September erinnern und Angst vor der OP entwickeln würde. Doch zum Glück war das nicht der Fall. Allerdings teilte sie mir und meinem Mann erneut mit, dass sie die Atemmaske beim Einschlafen vor der OP überhaupt nicht mag. Das war uns nicht neu, da wir das jedes Mal vor einer OP thematisieren. Die Anästhesie versucht, das einigermaßen kindgerecht zu gestalten, indem die Kinder sich zwischen den Düften Erdbeere, Schokolade oder Vanille entscheiden können, die aus der Sauerstoffmaske kommen. Warum auch immer, mag mein Kind keinen dieser Gerüche. Eigentlich mag sie keine Maske, keinen Schlauch ohne Maske, der mit Abstand vor ihrem Gesicht gehalten wurde – und Punkt.

Als wir wieder in der Klinik waren, führte ich Gespräche während der Anästhesieaufklärung, dann im Warteraum, und schließlich standen wir im OP-Raum. Ich erklärte erneut die Situation, und zum ersten Mal wurde ihr Wunsch nun endlich berücksichtigt. Der Anästhesist war einverstanden und hatte eine Lösung parat: „Ich werde dir die Anästhesie spritzen, während ich bis 10 zähle. Du musst mitmachen in dem du währenddessen tief ein und ausatmest”, erklärte er es ihr.

Sie war kooperativ und atmete mit meiner Hilfe tief ein und aus. Schon nach wenigen Sekunden schlief sie ein und bekam erst dann die Maske aufgesetzt – ohne eine Träne zu vergießen! Erleichtert und dankbar verließ ich den Operationssaal. So sollte es immer sein.

Als ich sie später im Aufwachraum traf, erzählte sie mir, dass sie die ganze Operation ohne Sauerstoffmaske überstanden hatte. „Was, wirklich?“, fragte ich sie mit einem Lächeln im Gesicht. Sie nickte mir sanft zu und schlief müde von der Operation wieder ein. Ich streichelte ihr über die Haare und konnte mich endlich entspannen.

Kinder sind meistens kooperativ, wenn sie ernst genommen werden

Wenn wir ihre Ängste und Wünsche respektieren und gemeinsam nach Lösungen suchen, können sie mehr mitwirken, als viele oft denken. Das fördert nicht nur Verständnis und Vertrauen, sondern hilft auch, negative Folgen wie Angst und Widerstand zu vermeiden. Und am Ende profitieren alle davon: das Pflegepersonal, die Herzen und Nerven der Eltern und die Kinder selbst, um die es in erster Linie geht.

Mehr Infos dazu: Zeitschrift frühe Kindheit | die ersten sechs Jahre. Ausgabe 02|22: Kinderrechte in der Medizin. Online bestellbar hier. Unbezahlte Werbung.

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