Ein Gastbeitrag von Mareike, Mutter eines Kindes mit Down Syndrom.
Wieder einmal steht der jährliche Check-Up meiner beiden Großen in der Universitätsklinik an. Beim Anblick des Gebäudes macht sich ein Unwohlsein bemerkbar, spätestens als die Kinder beim Passieren der Entbindungsstation sagen, dass hier ihre Schwester geboren sei, zieht sich meine Magengrube zusammen. Ich denke kurz daran, dass ich eigentlich immer, wenn ich hier bin, einfach mit dem Aufzug hochfahren, mich nach der Chefärztin der Neuropädiatrie erkundigen möchte, in ihr Büro stürme und sie eine blöde, emotionslose Kuh nenne. Auch heute werde ich es nicht tun, immerhin 6 Jahre nach der Geburt.
Damals fuhren mein Mann und ich bei einsetzenden Wehen ganz entspannt ins Krankenhaus. Beim dritten Kind ist man dann ja auch nicht mehr so aufgeregt. Die Hebamme war nicht gerade begeistert, da der Kreissaal gerappelt voll war. Sie wollte uns loswerden, da das Kind bestimmt noch nicht käme. Ich erwiderte, dass es spätestens in zwei Stunden da sei, und ich sollte recht behalten. Sie schickte uns Treppenlaufen. Als wir dann eine halbe Stunde später wieder auf der Matte standen, wollte sie mir nicht so recht glauben, legte mich auf ein Kreißsaalbett und verschwand in die Pause. Nur mit Mühe konnte mein Mann sie finden, als unsere Motte schon fast auf der Welt war. Diese Erfahrung brauche ich dann auch nicht noch einmal. Die Kinderärztin kam, untersuchte unser Kind und stellte fest: „Endlich ein gesundes Kind heute!“ Sie würde nicht recht behalten.
Auf der Wöchnerinnenstation angekommen, kamen auch bald Geschwister, Omas und Opa, Tanten und Onkel, um die neue Erdenbürgerin zu begrüßen. Alle waren gleichermaßen irritiert, weil unsere Motte rote Haare hat, wie der Freund meiner Schwester, aber sie waren sich einig, dass man das später gut färben könne. Der Tag nahm seinen Lauf und wir gewöhnten uns aneinander. Ich war zunächst gar nicht beunruhigt, dass sie viel schlief und wenig trank, das taten die Geschwister auch. Abends fiel der Krankenschwester allerdings auf, dass sie die Temperatur nicht gut hielt und wir die Nacht über bonden sollten. Gesagt, getan. Ich tat natürlich kein Auge zu.
Am Morgen war die Schwester zufrieden, allerdings gestaltete sich das Trinken weiterhin als schwierig. Ich bekam meine Abstillpille und wartete vor mich hin. Abends dann kam die Chefärztin, da sie mein Kind noch einmal untersuchen wollte. Wir gingen ins Untersuchungszimmer und sie begleitetet ihr Untersuchung mit folgenden Worten: „Mmh, die Augen sehen komisch aus, die Ohren sitzen zu tief, der Tonus ist miserabel. Naja, wenigstens kein Herzfehler!“ Als ich fragte, was das bedeute, meinte sie nur: „Sie haben ja wohl auch schon bemerkt, dass Ihr Kind anders aussieht als Ihre anderen?“ Und war nicht mehr gesehen. Ich fragte daraufhin die Schwester, was sie meine, und diese antwortete: „Haben Sie keinen Pränataltest gemacht? Dann müssen Sie auf morgen warten, ich darf dazu nichts sagen.“
Ich lag dann in meinem Bett, die ganze Nacht noch vor mir, die Abstillpille im Blut, schmerzende Brüste, Schmerzen überall, Müdigkeit der Vornacht, ein brüllendes Baby im Nachbarbett, und die Informationen von der Chefärztin und Krankenschwester, die mich kein Auge zumachen lassen. Ich betrachtete mein Kind. Naja, die roten Haare waren schon ungewöhnlich, auch schielte es viel, haben das die anderen auch? Was verflucht ist ein Tonus? Warum schälen sich die Händchen so extrem? Sollte es nicht noch was trinken?
Irgendwann graute der Morgen und ich wurde wieder ins Untersuchungszimmer gebeten. Eine junge Assistenzärztin, geschätzte 5 Jahre jünger als ich und 15 Jahre jünger als die Chefärztin, teilte mir mit, dass sie meine Kleine auf die Intensivstation verlegen würde, damit sie nicht noch weiter abbaue. Bei Kindern mit Down-Syndrom sei das nicht unüblich. Vielen Dank für eine Diagnose im Nebensatz. Daraufhin bekam ich einen Heulkrampf. Die Ärztin war entsetzt und bemerkte erst in diesem Moment, dass niemand vorher mit mir gesprochen hatte. Sie bemühte sich um Schadensbegrenzung- keine Chance.
Mich beschäftigt die Diagnosemitteilung noch jetzt. Ich kann mir nicht vorstellen, warum eine Chefärztin mit einem umfangreichen Studium und viel Erfahrung nicht in der Lage ist, Empathie zu zeigen. Es wird nicht das erste Kind mit Down-Syndrom auf ihrer Station gewesen sein. Und an einem Uniklinikum darf man davon ausgehen, dass viele Eltern aus der Bahn werfende Diagnosen für ihre Kinder bekommen, und auch all die anderen bekommen es so mitgeteilt? Schwer auszuhalten! Dabei braucht man direkt zu Beginn des Weges mit einem Kind mit Behinderung Bestärkung und Optimismus. Man mag jetzt einwerfen, dass die Ärztin einen schlechten Tag hatte oder dass so etwas schon mal passiere, aber nein, regelmäßig brechen Eltern in Tränen aus, wenn in Seminaren für Eltern mit Kindern mit Down-Syndrom die Diagnosemitteilung zum Thema wird. Mein Mann sagt immer: „Willst du einen guten oder einen netten Arzt?“ In so einem Moment wäre es mir tatsächlich egal, mit welchem Examen abgeschlossen wurde oder ob die Person einen Doktor hat. Mir hätte Empathie geholfen!
Und das ärgert mich auch: Ich denke nicht, wenn ich an dem Kreißsaal vorbeigehe, an den wundervollen Physiotherapeuten, der alle Fortschritte meiner Motte gelobt und uns gezeigt hat, wie wundervoll sie ist. Ich denke nicht an die deutschlandweit anerkannte Expertin für Fütterungs-Störungen, die mir tolle Tipps und Tricks gezeigt hat, und mir beim Rausgehen ihre Telefonnummer in die Hand gedrückt hat, da es ihr letzter Arbeitstag vor den Feiertagen war. Auch denke ich nicht an die Krankenschwester, die selbst einen großen Sohn mit Down-Syndrom hat, und uns auf unserer Station besucht hat, um mir die Angst zu nehmen. Auch der mitfühlende Kardiologe, der einen komplexen Herzfehler bei ihr feststellte und mich mit meinen Sorgen und Ängsten ernst nahm, fällt mir nicht ein, wenn ich dort vorbeigehe.
In einem Jahr ist wieder ein Vorsorgetermin in der Uniklinik. Vielleicht denke ich ja dann an alle diese wundervollen Menschen oder ich nehme einfach den Aufzug und mache endlich Nägel mit Köpfen.
…
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Ich binTeam Nägel mit Köpfen