Abgemahnt – der Mental Load von pflegenden Eltern

by Simone

Vor fünf Jahren hatte ich beinahe ein Inkassoverfahren am Hals, weil ich mehrfach vergessen habe, einen Sondenbody für mein schwerstkrankes Kleinkind zu bezahlen. Ich habe den Body im Internet bestellt, er kam irgendwann an und lag verpackt auf dem Küchentisch. Niemand packte ihn aus. Wir waren in der Klinik und dann in der nächsten Klinik und dann auf der Intensivstation und die Mahnungen flatterten rein und dann kamen wir nach Hause und ich packte die Koffer aus und wusch unsere Kleider und packte eine neue Kliniktasche. Ich kaufte Lebensmittel, bestellte Rezepte, rannte zur Apotheke, sondierte, wickelte, aß und trank nicht und vergaß die Rechnungen. Der Tag hatte nur 24 Stunden. Wir hatten keinen Pflegedienst. Ich hielt Nachtwache vor dem Monitor und dachte: ich muss heute die Rechnungen bezahlen. Morgen früh. Da werde ich sie überweisen. Ganz sicher.

 

Es wurde morgen früh. Mein Kind baute ab und ich warf die Kliniktasche ins Auto, packte den Rucksack und vergaß die Rechnungen. Ich fuhr ins Krankenhaus. Ich hatte vergessen zu tanken. Mein Kind erbricht sich auf dem Rücksitz. Aber ich muss tanken, sonst kommen wir nie im Krankenhaus an. Zeitgleich telefoniere ich mit der Kinderärztin und dem Krankenhaus. Mir fallen die Rechnungen ein. Ich schreibe meinem Mann, dass er nach dem Büro die Rechnungen bezahlen soll. Aber am Abend, als unser Kind wieder auf der Intensivstation liegt, haben wir beide die Rechnungen wieder vergessen. Ich bin wütend auf meinen Mann. Er kommt erst spät zu uns in die Klinik. Wir streiten. Wir haben keine Nerven für den Alltag einer normalen Familie. Wir streiten nie über die banalen Dinge im Alltag, sondern immer über existentielle Dinge. Wir streiten, wer erschöpfter ist, wer mehr von seinem Leben aufgegeben hat und wer die heutige Nacht in der Klinik übernehmen muss. Wir wollen überhaupt nicht streiten, aber wir sind am Rande unserer Belastbarkeit angekommen. Die Prioritäten haben sich verschoben von: wer zahlt wann die Rechnungen zu: wer sorgt dafür, dass unser gemeinsames Kind heute Nacht im Krankenhaus nicht verstirbt? Also werden wir abgemahnt. Aber nicht nur wegen der Rechnungen, sondern auch vom System, das uns hat fallen lassen.

Wir haben keine Zeit für den Alltag, aber er läuft weiter und frisst unsere Ressourcen. Oft zahlen wir drauf, weil die Rechnungen dann halt immer teurer werden und diese Rechnungen stehen auch metaphorisch für unseren Lifestyle. Einer zahlt immer drauf. Meist sind es die Mütter. Sind wir mal ehrlich. Wie oft habe ich meinen Mann beneidet, weil er statt ins Krankenhaus ins Büro gehen kann? Und wie oft hat er mich beneidet, dass ich bei unserem Sohn sein darf, während er arbeiten muss. Eigentlich sollten wir zusammen sein können. Zu dritt. Aber das geht nicht. Stattdessen zahlen wir drauf. Finanziell und mit unserer Psyche. Wir sehnen uns nach Gemeinsamkeit und streiten über den Mental Load. Wenn wir zuhause sind, versuchen wir dort anzuknüpfen, wo wir zuvor aufgehört haben und schaffen es nicht. Es ist zu viel liegen geblieben. Nicht nur die Rechnungen. Auch die Behördenbriefe, der Müll, die Wäsche, der Staub. Wir kommen völlig ausgelaugt zuhause an und wissen nicht wo beginnen. Alle wünschen uns ein schönes Ankommen zuhause. Wir fragen uns nur: wie um Himmels willen sollen wir zuhause ankommen, wenn unser Leben die Zwischenwelt ist? Die Berge von Verpackungsmaterialen erschlagen mich und machen die Wohnung wenig barrierefrei. Wenn ich jetzt einen Aufbewahrungsschrank im Internet bestelle, dann baut diesen wahrscheinlich nie jemand auch und die erste Mahnung liegt quasi schon im Briefkasten. Wir wissen nicht, wo wir diesen normalen Alltag einer Familie unterbringen sollen, neben dem medizinischen Wahnsinn, der Pflege und dem Überleben. Also zahlen wir weiterhin drauf, ohne uns zu beschweren. Ein Guthaben gibt es leider nicht. Schade Schokolade.

5 Kommentare zu “Abgemahnt – der Mental Load von pflegenden Eltern

  1. Dein Text rührt mich zu Tränen, ich werde ihn speichern, so gut beschreibt er den Wahnsinn, den wir hinter uns haben. Ich kam vollkommen erschöpft von einer Krankenhausschicht nach Hause, kümmerte mich roboterartig um das zweite Kind und konnte es nicht verstehen: Warum kommen Briefe an? Warum sollte ich die Steuern zahlen? Was will der Vermieter mit seiner dummen Errinerung? Meine Welt drehte sich nicht mehr. Oder anders gesagt: Ich war in einem Katapult, einer Schleudertrommel an Arztbesuchen, KH-Aufenthalten, Apothekenanrufen, Schockdiagnosen. Und die “normale” Welt, die drehte sich nicht mehr. Für mich. Aber leider tat sie es doch – Wir haben fast unsere Wohnung verloren, meinem Mann wurde mit Kündigung gedroht und das Finanzamt drohte bis hin zur Haftstafe. Jedenfalls. Nur schon das alleine, traumatisch.

  2. Ja, wie ich das auch kenne! Ich weiß schon lange nicht mehr was Mental Load ist. Es ist viel, was dir abverlangt wird, es ist verdammt viel und eigentlich wird es auch erwartet – du bist ja schließlich die Mutter. Ich schreibe in meinem Blog öfter von der inneren Unruhe – von meiner Überforderung – und davon dass Hilfen nicht da sind. Dass Helferinnen es gut meinen und dass es dennoch nicht optimal ist. Wir haben keine Lobby. Auch deswegen, weil wir billige Pflegekräfte sind – und nur die Mütter! Was brauchen die schon Hilfe, diese brauchen die Kinder/Junioren. Dass sich Eltern (natürlich auch Väter) selbst hintanstellen ist gesellschaftlich gesehen doch selbstverständlich – ihr seid doch schließlich die Angehörigen. Ich mache das, die Pflege und Fürsorge, mit sehr viel Liebe. Aber ich bin keine Maschine und nur ein Mensch mit diversen Bedürfnissen.

    Liebe Grüße und meine größte Hochachtung für dich. Für alle, die pflegen!!!

  3. Ich fühle das. Neulich hat die Mutter eine Freundin (mit der ich mich gestritten habe) allen Ernstes gesagt: Ja, sie hatte nicht so viel Glück wie Du. Klar. Meinen anstrengenden Alltag sieht niemand.
    Ich fände es gut, die Politik würde den betreuenden Angehörigen von Schwerbehinderten bzw. Pflegenden Angehörigen insgesamt dieselbe Zahl Sonderurlaubs-Tage gewähren, wie sie auch Schwerbehinderten gewährt wird (ich glaub das sind 5). Das rettet Familien wie Euch zwar nicht, ist aber erstens mal ein wichtiges Signal an uns: Wir werden gesehen und unsere Last auch. Und ein bisschen leichter würde es schon. Alles Gute für Euch!

    • Oft kommen wir nur in Mini-Schritten voran in Sachen Veränderungen für pflegende Angehörige. Aber Mini-Schritte wären dennoch besser als gar keine Veränderung.

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