Die Auswirkungen von Essstörungen auf Familien: Zwischen Stigmatisierung, Angst und strukturellen Herausforderungen

by Gastbeitrag Kaiserinnenreich

Triggerwarnung

In diesem anonymen Gastbeitrag werden die Themen Essstörung, Suizidgedanken, Suizidversuche, Depression und Klinikeinweisung behandelt. Wenn du gerade mental verletzlich bist und diese Themen dich belasten (könnten), lies den Text bitte nicht oder komm zu einem späteren Zeitpunkt zu uns zurück.

Weißt du, was es heißt?

Weißt du, was es heißt, eine 13-jährige Tochter mit einer Essstörung zu haben? Weißt du was es heißt, wenn dein Kind so depressiv ist, dass sie nicht mehr leben möchte und konkrete Pläne aufschreibt, wie sie ihr Leben beenden möchte?

Es heißt, dass die Familie sowieso schuld ist. Der Vater, der beruflich viel unterwegs ist. Die Mutter, die ganz offensichtlich mit den vier Kindern überfordert ist und sich ja wohl nicht richtig kümmert. Vielleicht ist auch der kleine Bruder schuld, der ist doch Diabetiker und hat LRS und ADHS, der braucht bestimmt so viel Aufmerksamkeit, dass für die anderen Kinder keine Zeit mehr übrig ist! 

So viel Angst

Aber eigentlich bedeutet es, dass du viele Jahre vor Angst um dein geliebtes Kind kein Auge zu machst. Irgendwann kannst du gar nicht mehr zählen, wie oft dir die Ärzte schon gesagt haben, dass ihr Körpergewicht “lebensbedrohlich niedrig” ist. Du kannst nicht schlafen. Denn du hast das Gefühl, sie wird dir nie verzeihen, dass du sie gegen ihren Willen in eine Klinik gesteckt hast. Doch du warst einfach so verzweifelt. Schließlich hast du schon eine Weile geahnt, dass was nicht stimmt. Konntest es aber nicht einordnen, weil du nie zuvor mit einer psychischen Erkrankung konfrontiert warst; weil kein Arzt, Psychologe oder Therapeut dir eine Antwort auf dein verzweifeltes “Warum?” geben kann.

Der Kreislauf aus nicht-endender Therapie für die Patientin, Gesprächen für dich und zahllosen Klinikaufenthalten begann mit dieser ersten Einweisung. Und mit ihm der Spagat, allen Kindern eine halbwegs gute Kindheit, ein schönes Zuhause, erinnerungswürdige Geburtstage, Feiertage und Sommerferien geben zu können.
Dann waren da noch all die Fahrten zu Terminen (in diesem einen Jahr waren es 6000 km!), die Wartezeit bis sie fertig ist; die Zeit, die du wartend im Auto verbringst. Und die Zeit, die du damit verbringst, einfach nur schreckliche Angst zu haben. Angst, dass sie nie mehr nach Hause kommt, dass sie ihr Pausenbrot weggeworfen hat, statt es zu essen, dass sie nicht ehrlich zu dir ist, wenn es ihr wieder mal schlecht geht.

Allein und überlastet

Außerdem bist du ganz alleine, du klammert dich weinend an deinen Mann. Der ist genauso überfordert, verängstigt und geschockt über alles, was passiert ist. Der genauso verzweifelt versucht, alles irgendwie aufrecht und am Laufen zu halten, jeden Arbeitstag im Büro aufs Neue. Der den Auftraggebern seines hochdosierten Beratungsjobs bestenfalls sagen kann „Notfall zuhause, ein Kind ist im Krankenhaus”. Zudem macht er sich Sorgen, dass du auch krank wirst und zusammenbrichst, weil er dich noch nie so gesehen hat. So überlastet, verzweifelt, so fix und fertig.

Euch versteht niemand. Der Freundeskreis kann es spätestens nach ein paar Wochen nicht mehr hören. Sie verstehen nicht, warum du dich nicht traust, länger als ein oder zwei Stunden bei der Geburtstagsparty zu bleiben. Während dein Hirn die ganze Zeit rattert, ob zu Hause alles ok
ist, oder sie die gut versteckten Cuttermesser gefunden und sich wieder neue Schnitte an den Armen zugefügt hat. Während du mit klopfendem Herzen die Haustür aufschließen, weißt du, dass da wo du eben noch am Tisch gesessen hast über dich geredet wird:  Spaßbremse, komische Frau, kein Wunder, dass die Tochter krank geworden ist, bei der Mutter…

Sie reden und sie glotzen

Du fühlst die Blicke im Dorf-Supermarkt, von Leuten, die du nur vom Sehen kennst und du weißt was sie denken: Du bist doch die mit der magersüchtigen Tochter. Ihre Blicke durchbohren dich und schaust du in ihre Richtung, dann blicken sie zu Boden als wäre nichts gewesen. Aber du fühlst ihre Gedanken, kennst das Gerede und die Sprüche hinter deinem Rücken, die sich auch deine anderen Kinder anhören müssen. Aber niemand kennt dein Leid, deine unzähligen Versuche Hilfe zu bekommen. Therapieplatz für dich? Fehlanzeige! Antrag auf Familienhilfe vom Jugendamt? Abgelehnt. Ist doch alles gut bei Ihnen, Sie wohnen in einer ordentlichen Gegend, der Mann ist nicht gewalttätig, niemand süchtig, geregeltes Leben und Einkommen. Prima, das können Sie ALLES alleine regeln, Hausbesuche beendet, Akte geschlossen.

Das alles hat vor fast 7,5 Jahren angefangen. Zeit heilt keine Wunden. Jede nicht geweinte Träne stellt sich hinten an. Mittlerweile schlafe ich meistens wieder. Glücklicherweise hat unsere Ehe das bisher relativ unbeschadet überstanden. Ich habe nur noch manchmal Angst, wenn meine Tochter zu spät nach Hause kommt. Sie hat fast 1,5 Jahre in unterschiedlichen Kliniken verbracht, mehrfach die Therapeuten gewechselt, einen Schulabschluss gemacht und beginnt sehr wahrscheinlich im Sommer eine Ausbildung.

Trotzdem hat sie mir nie verziehen, dass ich sie zur ersten Behandlung gezwungen habe. Ihre Geschwister kennen die Details bis heute nicht. Dieser Text ist anonym veröffentlicht, niemand aus der Nachbarschaft, kein Lehrer der jüngeren Kinder, keine Kollege meines Mannes und meine Eltern werden ihn jemals lesen. In ihrer Welt kommen kranke Kinder, die mehr als eine Grippe oder ein gebrochenes Bein haben, einfach nicht vor. Ebenso wenig wie besorgte Eltern, verängstigte Geschwister und eine Welt, die aufgrund einer Erkrankung völlig aus den Fugen gerät und nie wieder so sein wird wie “davor”.

Ein Kommentar zu “Die Auswirkungen von Essstörungen auf Familien: Zwischen Stigmatisierung, Angst und strukturellen Herausforderungen

  1. Danke für diese ehrliche Beschreibung unserer unendlichen Angst und Überforderung, unseres ständigen Kampfes um Hilfe und Unterstützung.
    Mein Kind hat keine Magersucht – ich suche noch nach Diagnosen (und Diagnostiker:innen, die tatsächlich auf mein Kind schauen und nicht einfach nur auf die bereits bestehende Sammlung und sagen “machen wir immer so”), um gezielter helfen zu können.
    Und bis ich Hilfe und Unterstützung gefunden habe, werde ich weitere Stunden damit verbringen, wenigstens über die Suizidgedanken und die Todessehnsucht mit meinem Kind zu sprechen, das sich ja selbst nicht mal versteht. Ich werde weiterhin versuchen, jeden Zipfel aufzunehmen, wenigstens wieder ein kleinen wenig Selbstwert und Selbstliebe in ihm zu unterstützen.

    Nach deinem Text fühle ich mich wenigstens ein kleinen wenig weniger allein und isoliert!

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