Ich bin Mutter eines Kindes mit Behinderung

by Gastbeitrag Kaiserinnenreich

In unserem heutigen anonymen Gastbeitrag lässt uns eine Mutter an ihrem Denkprozess teilnehmen, den sie über die Jahre durchlebt hat. Für sie hat auch die Reflektion über die Bezeichnungen “behindert” und “mit Behinderung” viel dazu beigetragen. Danke, dass du uns deine Gedanken schenkst.

Ich bin Mutter eines Kindes mit Behinderung.

Ich habe immer noch Hemmungen das zu schreiben oder auszusprechen, auch wenn ich weiß woran das liegt. In meiner Kindheit und Jugend gab es sprachlich keine Menschen mit Behinderung. Es gab behinderte Menschen. Wurde über diese behinderten Menschen gesprochen waren die Äußerungen in den allermeisten Fällen abwertend gemeint. Selten entschuldigend, also dass der behinderte Mensch ja nichts dafür konnte, wenn etwas nicht klappte oder umgesetzt werden konnte wegen der Behinderung. Dass viele der Probleme für die Menschen oder Kinder mit Behinderung durch die
gesellschaftlichen Ansichten und Erwartungen, fehlenden Hilfsmittel und zumindest problematischen eigenen inneren Einstellung hervorgerufen wurden stand gar nicht erst zur Diskussion. Von Inklusion und Teilhabe will ich gar nicht erst schreiben. Es gab nur Sonderschulen. Förderschulen mit entsprechenden Schwerpunkten waren kein Thema.

Das alles ist so tief in mir verankert. Mein Weg das zu erkennen war lang und auch schmerzlich. Eigene Wahrheiten zu Hinterfragen und sich damit auseinandersetzen tut weh. Sich sprachlich weiterzuentwickeln genauso. Denn ich behaupte von mir, dass ich mit Begrifflichkeiten wie “behinderte Kinder” zumindest im Erwachsenenalter niemand mehr verletzen wollte. Dass allein diese Äußerung und der Punkt die Behinderung sprachlich vor den Menschen zu stellen verletzend ist, ist auch mir erst im Laufe der Zeit bewusst geworden. Der Weg ist sicher noch nicht zu Ende, aber er lohnt sich. Allein schon der Hoffnung wegen meinen Kindern zu vermitteln welche Macht Sprache hat und wie wichtig Sensibilisierung dafür ist.

Mein Kind hat eine nichtsichtbare Behinderung.

Mir verschafft das einerseits Erleichterung und anderseits Wut und Frustration. Ich bin erleichtert, weil nicht jeder der mein Kind oder uns sieht sofort in Bewertungen verfällt. Schlimmstenfalls noch
unreflektierte Kommentare und Äußerungen gegenüber meinem Kind und uns fallen lässt. Aber ich bin genauso wütend und frustriert. Denn wenn man sich erklärt bzw. erklären muss, damit Teilhabe und Inklusion funktionieren kann, werden Hilfsmittel versagt und oft genug Unverständnis geäußert. Gerne mit dem nichtausgesprochenen Vorwurf das die nichtsichtbare Behinderung auf Erziehungsfehler zurückzuführen ist.

Dieser Vorwurf steht meistens zwischen den Zeilen. Ob ausgesprochen oder nicht, in mir wird immer das schlechte Gewissen angesprochen. Obwohl ich weiß das diese Personen falsch liegen. Denn immer noch ist es schwer für ausstehende Menschen und auch Fachpersonal außerhalb gewohnter
Strukturen zu denken. Das hat viele Gründe und sicher liegt nicht immer Unverständnis zu Grunde, sondern Mehraufwand, fehlendes Personal, sich selbst beim Vorgesetzten rechtfertigen und eigene Einstellungen hinterfragen zu müssen. Das sehe ich. Weniger wütend und frustriert macht mich das nicht.  Und die ausgesprochenen oder nicht ausgesprochenen Vorwürfe von denjenigen die Glauben, alles würde nur mit der inneren Einstellung des Kindes und der Erziehung zusammen hängen? Die treffen mich ins Herz und tun weh. Die Unterstellung mein Kind will nur zu wenig. Etwas mehr Bereitschaft zur Anstrengung würde das schon regeln. In den Momenten wünsche ich mir diese Menschen müssten selber eine zeitlang in meinen Schuhen gehen….und ich wünsch es mir auch wieder nicht. Wer weiß wie sie mit dieser Behinderung umgehen würden? Und schon geht die Gedankenspirale wieder los. Ich hab mir das nicht ausgesucht. Ich halte daher nichts von dem Satz, das nur besonders starke Eltern Kinder mit Behinderung bekommen, weil Gott oder wer auch immer weiß, dass diese die Herausforderung meistern werden. Aber ich habe mir ausgesucht mich zu Hinterfragen. Dinge anders zu machen als ich sie gelernt habe. Mich auf den Prüfstand zu stellen. Würden das die Personen die denken alles liegt an Erziehung und innerer Einstellung auch machen?

Für mein Kind konnten wir bisher viel an Inklusion und Teilhabe umsetzen. Wir hatten viel Glück und hatten bisher oft die richtigen Menschen an unserer Seite und wenn das nicht der Fall hatten wir zeitliche Ressourcen und finanzielle Sicherheit um uns darum zu kümmern diese Menschen an die Seite unseres Kindes zu bekommen. Mich hätte das fast meine mentale Gesundheit gekostet. Dass so vielen Kindern mit Behinderung (egal ob sichtbar oder nicht) diese Teilhabe aus Kostengründen mit Absicht versagt wird, macht mich immer noch traurig und wütend. Es drohte mich in einen Strudel hinabzuziehen. Zu wissen, dass der eigene Wirkungs- und Aufklärungskreis begrenzt ists hat mich zusammen mit dem stetigen Einsatz für unser Kind fast in einen Burn Out getrieben. Ich musste lernen meine mentale Gesundheit zu schützen. Notfalls durch Verdrängung, aber auch durch eigene Anerkennung meiner Leistung.

Ich bin Mutter eines Kindes ohne Behinderung.

Das hat so viel in mir geheilt. Zu sehen dass mein Kind im gesellschaftlichen Rahmen ohne jegliche Zusatzförderung zu Recht kommt und glücklich ist hat mir Hoffnung zurückgegeben. Ein Kind das seine Aufmerksamkeit einfordert und sein Geschwisterkind trotzdem ohne Vorbehalte annimmt und liebt wie es ist, lässt mein Herz tanzen vor Glück und die normalen Geschwisterstreitigkeiten kann ich mit dem Wissen auch besser aushalten 😉 Es ist so schön zu erleben wie mein Kind ohne Behinderung Herausforderungen ohne Angst und Hemmung meistert oder sich dieser stellt und jeden verdammten Schritt in die Selbstständigkeit, feiere ich mit diesem Kind. Weil ich weiß, wie wertvoll und dass es nicht selbstverständlich ist. Ich konnte mein schlechtes Gewissen, das ich Anfangs aufgrund dieser Gefühle hatte ablegen, aber auch das musste ich lernen. Dass alles gleichzeitig zu empfinden ist oft auch anstrengend, aber heute ist mit bewusst, dass diese Gleichzeitigkeit der Gefühle in Ordnung ist. Keine Entscheidung welches Gefühl überwiegt. Kein Schwarz oder Weiß. Kein nur gute oder nur schlecht Gefühle. Alles dazwischen hat seine Berechtigung. Das kann ich heute Annehmen.

Ich bin Mutter.

Ich bin Mutter von zwei Kindern und auf jedes meiner Kinder bin ich stolz. Ich wäre nicht da, wo ich heute bin, gäbe es eins von Ihnen nicht. Ich bin Mutter und wünsche mir wie jede andere Mutter, dass meinen Kindern ein glückliches Leben bevor steht. Ich bin Mutter und wünsch mir deswegen, dass der gesellschaftliche Kontext und die politische Kommunikation wieder eine andere wird. Ich bin Mutter und wünsche mir, dass meine Kinder später um ihre Privilegien wissen. Ich bin Mutter und habe so viele Wünsche für meine Kinder.

Und dabei spielt es keine Rolle, ob ich an mein Kind mit nichtsichtbarer Behinderung denke oder an mein Kind ohne Behinderung.

Ein Kommentar zu “Ich bin Mutter eines Kindes mit Behinderung

  1. Ich versuche gerade für uns mit meinem jüngeren Kind Antworten auf die Frage zu bekommen, warum es immer wieder in der Gesellschaft scheitert.
    Dabei stoße ich auf genau die von dir beschriebenen Wahrnehmungen und Zuschreibungen.

    Und meine Erschöpfung steigt mit jedem neuen Scheitern, von vermeintlichen Expert:innen wenigstens angehört und ernst genommen zu werden.

    Gesten habe ich mich entschieden, vor alles die Dankbarkeit zu stellen für die tollen Menschen (wie mein älteres Kind), die es auch gibt.

    Mir ist klar geworden, dass niemand mich retten wird. Stärke muss ich in mir selber finden.

    Deine liebevollen und wütenden und hoffnungsvollen Worte machen mir Hoffnung, dass ich das schaffen kann.

    Danke!

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