Die Sache mit der Sprache – non-verbal, prä-verbal und alles dazwischen

by Anna

I’m all out of love, I’m so lost without you

I know you were right believing for so long

I’m all out of love, wha am I without you?

I can’t be too late to say that I was so wrong

Die Zeilen von Air Supply klingen aus dem Musik Magneten am Kühlschrank, den ich meinem Mann zu unserem letzten Hochzeitstag geschenkt habe. Lukas liegt in meinen Armen, ich sitze am Esstisch, grade haben wir noch zu Abend gegessen. Sein Kopf liegt auf meiner Schulter und er singt mit. Klar und deutlich singt er Strophe 1, Refrain, Strophe 2. Zum nächsten Refrain steht er auf, nimmt seine Position ein und schmettert die Worte, die zum Klimax führen. Seine Posen passt er dem Text an, obwohl er ihn nicht versteht. Er versteht aber, dass es ein Lied mit ganz viel Gefühl ist und beschreibt mit seinen Armen große Kreise, während er den letzten lang gezogenen Ton beendet. Seine Hände landen übereinander gelegt auf seiner Brust und er schaut mich liebevoll an. Dann verbeugt er sich mit viel Schwung in alle Richtungen. Mein Mann und ich klatschen und rufen “Bravo, Bravo!”. 

Grade noch non-verbal

Und wir meinen es so. Denn dieses Kind habe ich vor ein paar Jahren noch als non-verbal bezeichnet. Das bedeutet, dass er aufgrund seiner Behinderung Down-Syndrom keine verbale Sprache zur Kommunikation benutzt hat. Er hat viele Jahre Gebärden und Laute verwendet. Gesprochene Sprache ist bei vielen Menschen mit dieser Behinderung gar nicht oder weniger ausgebildet; der Grund dafür ist unter anderem die angeborene Muskelschwäche. Für Genaueres müsstet ihr euch mal mit Logopäd*innen unterhalten.  Ganz individuell ist diese Muskelschwäche unterschiedlich ausgeprägt und kann mit Therapie und Übungen bearbeitet werden. Viele von uns, die sich nie Gedanken um solche Dinge machen mussten, wissen gar nicht, wie viele Muskeln im Gesicht und im Mund gebraucht werden, um Wörter zu bilden. Klar ist Spracherwerb dann nicht einfach mit Muskelschwäche.  

Ketchup oder Joghurt?

Während Lukas grobmotorisch richtig viel Kraft hat – Armdrücken würde er wahrscheinlich gewinnen – brauchten die Muskeln im Gesicht ein bisschen Hilfe. Vor einer ganzen Weile hatte ich versucht, einen Platz für ihn in der “Bewegten Logopädie” im Allgäu zu bekommen, die Logopädie und Reittherapie kombiniert. Wie bei vielen Programmen, die einzigartig und hilfreich sind, ist die Warteliste lang, meine Geduld aber eher knapp. Ich dachte mir also “Versuchen wir es mit einer eigenen Kombination” und wir meldeten ihn bei einer logopädischen Praxis und bei einer Hippotherapie in unserem Nachbarort an. Beides hat er mit viel Freude gemacht, während ich erst schwanger und dann mit frischem Baby im Wartezimmer und am Koppelrand saß. 

Um ehrlich zu sein, sah ich keine Fortschritte. Er benutzte immer noch Gebärden und Laute. Und manchmal zeigte er einfach auf den Kühlschrank und je nachdem, auf welchen Teil er zeigte, wusste ich dass er Ketchup oder Joghurt wollte. Für uns war es nie schlimm, dass er nicht gesprochen hat, unsere Kommunikation hat trotzdem meist funktioniert. Aber Sprache ist ja auch mehr als das. Sie ist ja auch Selbständigkeit und drückt auch Charakter aus. Viel zu oft haben wir nicht verstanden, was er wollte oder was er meinte und dann wurde er richtig wütend. Und das zu Recht, wie ich fand. Das war für uns alle schlimm und für ihn natürlich am meisten.

“Wenn Kinder daheim viel sprechen, fällt ihnen der Spracherwerb leichter”

Wir hatten Hoffnung, dass der Spracherwerb seiner vier Jahre jüngeren Schwester seinen eigenen ankurbeln könnte. Aber wie das so ist, hat auch sie länger gebraucht, um Sprache zu erwerben. Ärzt*innen sagten natürlich, dass sie das auch gar nicht so richtig kann, wenn der älteste Bruder als Autist nicht direkt kommuniziert und der andere Bruder keine verbale Sprache benutzt. An vielen Tagen musste ich verstehen, dass nichts davon unsere Schuld ist. An anderen Tage habe ich übertrieben viel mit allen drei gesprochen. Sehr deutlich, in kurzen verständlichen Sätzen. Doch es machte keinen Unterschied. Und dann kam er in die Schule und wir pausierten erstmal mit Therapien (und haben bis heute nicht wieder damit angefangen). Die Kasse hat auch festgestellt, dass sie 25 Minuten Hippotherapie zu je 48€ ja gar nicht zahlen müssen und haben die Zahlungen eingestellt, ups.

“Mama, raus! Schuhe”

Während wir alle damit beschäftigt waren, Lukas gut in der Schule einzugewöhnen, hat er angefangen, einzelne Wörter zu formen und auszusprechen. Und wir feierten jedes davon mit viel Lob und ein paar Tränen. In den letzten eineinhalb Jahren kamen immer mehr einzelne Wörter und kurze Sätze dazu. Ich habe gelernt, dass das auch als “prä-verbal” bezeichnet werden kann. Und dann kam der Tag, an dem er anfing, zu erzählen. In Ermangelung mancher Wörter überspringt er sie oder setzt ein Wort ein, das ähnlich klingt. Aber mit viel Nachfragen und anhand der Gebärden kriegen wir raus, was er erzählen will. Nur manchmal wissen wir immer noch nicht so richtig, was er meint. Vor allem, wenn er sich ein Video auf “jutjub” (YouTube) wünscht. Dann beschreibt er es mit Gebärden und großen Gesten und singt dazu. Und wenn ich keine Ahnung habe, welches Video er meint, dann frage ich den großen Bruder: “Welches Video meint Lukas?” “Na, das mit der Schlange, die aus dem Wald kommt und in dem der Bär den Honig isst” oder so ähnlich. Und das stimmt dann eigentlich immer. Soll mal jemand sagen, meine behinderten Kinder könnten nicht kommunizieren.

Manchmal hat es in den letzten Jahren schon gepiekst, wenn ich darüber nachgedacht habe, dass er mir nie von seinen Träumen erzählen wird. Nicht von denen in der Nacht und nicht von denen, die seine Zukunft betreffen. Letztes Wochenende kam er nach dem Aufwachen die Treppe runter und setzte sich zu uns an den Tisch, den ich schon für alle gedeckt hatte. Er sah traurig aus und wollte nicht essen. Dann füllten sich seine Augen mit Tränen. Ich bot ihm an, auf meinen Schoß zu kommen, aber er verneinte. Er begann zu erzählen.

“S war dunkel (Gebärde: Hand bedeckt die Augen), da große Augen (Gebärde: Hände kreisartig um die Augen gelegt) die Spinne (Gebärde: die ausgestreckten Hände berühren sich am Spann zwischen Daumen und Zeigefinger, dann drehen sich die Hände um 90Grad und berühren sich wieder) kommt von Decke (Gebärde: zeigt nach oben, macht krabbelnde Bewegungen mit der Hand und zieht sie nach unten), Angst (Gebärde: er zieht die Fäuste an die Brust und schüttelt sich)”.

Dann durfte ich ihn endlich in die Arme nehmen und ihn trösten. Wir wissen nicht, ob es ein Traum war oder ob eine Spinne von der Decke kam (wie leider manches Mal schon), aber dass er sich mir anvertrauen und er Trost und Wärme bekommen konnte, war ein unfassbarer Moment für ihn und uns. Ein Meilenstein, wenn man so will. Und wenn es nur bei diesem einen Moment bleibt, ist das voll in Ordnung. 

 

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