Pizzatag mal anders

by Bárbara Zimmermann

Ich höre nur, wie sie den Stock fallen lässt. Ich drehe mich zu ihr, ihr Kopf hängt zur Seite. Lucy* spielt weiter auf dem Sofa. Scheiße, Kind3 krampft. Ihre Atmung ist flach, ihre Augen bewegen sich unwillkürlich. „Rapha, komm schnell!“, rufe ich meinen Mann. „Schnell!“ Scheiße, sie krampft. Die Zeit steht plötzlich still, während im Hintergrund „Die Laser-Falle“ läuft. Vor wenigen Minuten haben Kind3 und Lucy im Chor das Intro-Lied von den „Drei??? Kids“ gesungen. Und jetzt das. Auch wenn ich weiß, dass es nichts bringt, sie zu rufen, kann ich einfach nicht untätig bleiben. „Lucy, Kind3 ist gerade ziemlich schlapp geworden, deswegen schauen wir, dass es ihr bald besser geht, okay?“

Wenn ich mich in solchen Situationen von außen beobachten würde, wie ich innerlich ruhig mein eigenes Kind bei einem epileptischen Krampf begleite und gleichzeitig altersgerecht ihrer Freundin die Situation erkläre, erscheint mir das ziemlich surreal. Kind2 und Kind1 kommen dazu. Ihre Augen sehen auch anders aus. Scheiße. Mein Mann geht zu ihnen und erklärt die Situation. Sie wirken okay. „Kind2, magst du vielleicht mit Lucy die Geschichte in deinem Zimmer weiter hören?“

Drei Minuten vergehen, die sich wie Stunden anfühlen. Das Notfallmedikament wird zum ersten Mal benötigt. Die Hälfte in die eine Backe, die andere Hälfte in die andere. Keine Wirkung. Meinem Verständnis nach sollte der Krampf ziemlich schnell aufhören. Er hört aber nicht auf. Ich habe Angst. „Drehe sie noch mehr zur Seite.“ 112. Stadtteil, Adresse, Alter. Der Arzt kommt. Abwarten. Sie krampft heftiger. Ich habe noch mehr Angst. 112. „Ist der Arzt wirklich unterwegs?“ „Ja, Sie haben vor einer Minute angerufen, er braucht auch ein paar Minuten, bis er bei Ihnen ist.“ Ja, das weiß ich. Fuck! Und dann plötzlich ist das Gewitter vorbei. Sie reagiert auf unsere Stimmen. Ruhe kehrt ein. „Du hast gerade gekrampft, meu amor.“ „Ja“, sagt sie und schläft ein. Puff. Wir legen sie auf das Sofa. Und umarmen uns.

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Spielen wir Demokratie? Aber im Ernst!

by Bárbara Zimmermann

 „Wenn große Gruppen von Menschen in unserer Gesellschaft von anderen ausgegrenzt werden, schwächt dies das Gefüge unserer Gesellschaft. Wenn wir zulassen, dass wir langsam zu einem Land werden, in dem wir uns einfach nicht mehr in andere hineinversetzen können, werden wir die Komplexität von Diskriminierung und die damit verbundenen Gefühle nicht mehr verstehen. (…) Wir müssen aus der Passivität – aus dem Gefühl, eine einsame individuelle Stimme zu sein – zu einer aktiven kollektiven Stimme werden“.

Das sind die letzten Worte von Judith Heumann in ihrem sehr empfehlenswerten Buch „Being Heumann. The unrepentant Memoir of a Disability Rights Activist“. Ich habe viel von ihr gelernt, schon damals im Film Crip Camp – auch sehr zu empfehlen!

Zu Beginn des Buches erzählt Heumann, wie ihre Mutter eine Pilgerreise unternahm, um ihr als behindertes Kind den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Dieser Weg und diese Odyssee kamen mir sehr bekannt vor, obwohl es in diesem Teil des Buches um ihre Kindheit in den 50er Jahren in den USA handelt. Und heute, 70 Jahre später, kämpfen wir pflegenden Mütter weiter. Wie viele Generationen von Familien mit behinderten und chronisch kranken Kindern werden noch so leben müssen?

Wie wäre es aber, wenn wir in einer Welt leben könnten, in der Familien die notwendigen Strukturen hätten, um sich um ihre Kinder und die Pflege ihrer Angehörigen zu kümmern – mit ausreichenden Ressourcen? Wie wäre es, wenn Pflege nicht automatisch mit Armutsrisiko, psychischer Erschöpfung und sozialer Ausgrenzung verbunden wäre? Das wäre wirklich gut! Brenda könnte Urlaub auf Mallorca machen, Simone könnte mit einem tollen Team ihr Drachenkind pflegen und gleichzeitig erwerbstätig sein. Das wäre doch gut – und so sollte es sein! Mit der Petition für die Weiterzahlung des Pflegegeldes nach 28 Tagen kämpfen wir genau für dieses Ideal: für mehr Gerechtigkeit für Familien mit pflegebedürftigen Kindern. 

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E-Mail einer pflegenden Mutter, die „schon länger im Geschäft“ ist

by Bárbara Zimmermann

Letzte Woche hat mich eine E-Mail überrascht. Andrea hat mich mit ihren Worten sehr berührt und ich fand, dass das, was sie mir mitgeteilt hat, hier im Blog mehr Platz verdient. Außerdem hat sie uns alle Mütter des Kaiserreichs angesprochen – also war die Mail nicht nur für mich, auch wenn sie in meiner Mailbox gelandet ist. Mit ihrer Absprache veröffentliche ich hier ihre E-Mail für euch.

Ich persönlich war schon immer sehr neugierig auf die Erfahrungen und Erzählungen von pflegenden Eltern, die wie Andrea seit Jahrzehnten pflegen. Wie haben sie damals die Unterstützung ihres Umfeldes erfahren? Hatten sie das Gefühl, die Politik an ihrer Seite zu haben? Deshalb habe ich vor drei Jahren den Elternfragebogen speziell für pflegende Eltern “die schon lange im Geschäft sind”, entwickelt. Bisher haben nur Martina und Barbara daran teilgenommen – und wie ich diese beiden Beiträge liebe! Aber jede*r ist willkommen, seine*ihre Erfahrungen mit uns zu teilen.

“Liebe Mütter des Kaiserinnenreiches,

beim Durchzappen der WDR-Mediathek bin ich durch Zufall auf einen Beitrag von Euch bzw. von Bárbara gestoßen und würde mich gerne einfach mal bei Euch melden bzw. vorstellen. Eigentlich bin ich als pflegende Mutter „schon länger im Geschäft“, fühle mich in manchen Situationen aber immer wieder wie am Anfang…

Ich heiße Andrea, bin seit einem Montag im März diesen Jahres 60 Jahre alt (was für eine Zahl; das erste Mal fühlte ich mich alt), bin nächstes Jahr 30 Jahre verheiratet und lebe mit meiner Familie am nördlichen Bodensee. Meine Kinder sind inzwischen 27, 25 und 20 Jahre alt, wobei nur unsere Jüngste noch offiziell bei uns wohnt, da sie im Moment das letzte Jahr ihrer Ausbildung als Hotelfachfrau in Konstanz absolviert.

Unsere älteste Tochter (unser Sohn ist dazwischen) kam im Februar 1997 mit Apgar-Werten von 9/10/10 und damit offiziell gesund auf die Welt und nach 10 Tagen hieß es aber: „Seien Sie froh, dass ihr Kind überhaupt noch lebt. Sie wird nie sprechen und laufen können“. Gut, das macht sie inzwischen beides auf ihre eigene Art, wird aber nie ein eigenständiges Leben führen können und immer auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sein. Schlimm war aber damals, dass während der sechswöchigen Zeit meiner Tochter auf der Neonatologie und auch fast ein Vierteljahr danach ich mein Kind nicht mit Namen ansprechen konnte, mich wie ein Roboter verhielt und jede Nacht davon träumte, wie ich bei einem evtl. Tod reagieren würde.

Man wird nicht als Mutter geboren, das muss man lernen, und ich hatte ja keine Vergleiche mit anderen Kindern.

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Das Kaiserinnenreich im Fernsehen

by Bárbara Zimmermann

Ich sage immer wieder, wie gerne ich davon träume, wenn wir am Kiosk irgendeine Zeitschrift kaufen und ganz unspektakulär – und trotzdem schön – Familien mit behinderten Kindern sehen können. Oder wenn über pflegende Mütter in ihrer Vielfalt in den großen Medienkanälen berichtet wird. Unspektakulär deshalb, weil die Berichte, die über uns gemacht werden, oft einen mitleidigen Ton haben oder ein Bild von uns verkaufen, als hätten wir Superkräfte. Wir brauchen weder Mitleid noch Applaus. Dennoch ist unser Familienmodell lebenswert und muss auch in seiner Vielfalt sichtbar werden.

Mit Hilfe eines tollen und sensiblen Fernsehteams durfte ich meinen Weg als pflegende Mutter – und als Frau – ein wenig sichtbar machen.

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Der Optimierungsdruck von Geburt an

by Bárbara Zimmermann

Bild von mehreren Linealen und Messbändern.

Wer entscheidet, was als normal für ein Kind gilt? Wer entscheidet, was in seiner Entwicklung akzeptabel ist? Wer entscheidet, was genug ist?

Ein Kind mit Behinderung wird in der Regel von mehreren Personen betreut und begleitet. Es gibt zahlreiche Personen, die Meinungen und Vorschläge zu ihm haben. In unserem Fall sind es nicht nur mein Mann und ich, sondern auch die Physiotherapeutin, die Therapeutin der Frühförderung, der Pflegedienst, der sie im Kindergarten katheterisiert, das Kindergartenteam, die Sanitäter*innen sowie die Ärzt*innen und Pfleger*innen aus den Bereichen der Orthopädie, Urologie und Neurologie. Und natürlich die Kinderärztin. Jeder hat eine eigene Perspektive und Erfahrungswerte. Es ist manchmal hilfreich, sich mit Fachmenschen auszutauschen. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass unser Kind sich in seinem eigenen Tempo entwickeln kann, ohne dass es dauerhaft Menschen gibt, die seine Entwicklung kommentieren oder verbessern möchten.

Es ist auch die Aufgabe aller Begleitpersonen unseres Kindes, Empfehlungen über ihre Gesundheit und Entwicklung zu machen, das ist mir bewusst. Dies ist Teil ihres Verantwortungsbereichs als Fachspezialisten. Mir ist jedoch aufgefallen, dass bestimmte Sätze häufig wiederholt werden, wie zum Beispiel alles was mein Kind lernen oder anders machen „muss“:

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Ein warmes Gefühl von Zuhause

by Bárbara Zimmermann

Dass die Welt groß ist, wissen wir alle. Aber was große Entfernungen für eine*n bedeuten können, wissen vor allem migrantische Familien.

Vor einer Woche bin ich aus Brasilien zurückgekommen, wo ich geboren wurde und den Großteil meines Lebens verbracht habe. Obwohl ich die Einzige meiner kleinen Familie bin, die dort geboren ist, fühlt sich Brasilien wie ein Zuhause für uns fünf an.

Ich hätte so vieles zu erzählen: wie lebendig ich mich dort fühle; welche Freude es für mich ist, meine Kinder Portugiesisch sprechen zu hören und wie sie mich nach vielen Jahren wieder “mãe” (Mama auf Portugiesisch) nennen; wie absurd schön die Natur des Regenwaldes mit seinen Wasserfällen, Flüssen und Tälern ist – und der Strand! Oder genauer gesagt: die Strände!

Die ganze Vorbereitung für die Reise war der Wahnsinn! Da wir mehrere Wochen dort verbrachten, mussten wir vieles mitnehmen, insbesondere genug von allen wichtigen Pflegeartikel für Kind Nr.3: fast 300 Blasenkatheter, 130 Spritzen (sie bekommen ein bestimmtes Medikament in der Blase durch den Blasenkatheter gespritzt, also ohne Nadel), ein Darmspülungssystem, ein Outdoor-Rad für den Rollstuhl und noch andere Dinge, die wir im Alltag für sie benötigen, lagen im Koffer zwischen Badeanzügen, Flipflops und Lindt-Schokolade (zusammen mit Weihnachtsdekoration, das beste Geschenk für Brasilianer*innen).

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Buchtipp: “Angry Cripples. Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus“, herausgegeben von Alina Buschmann, Luisa L´Audace.

by Bárbara Zimmermann

Als nicht-behinderte Frau musste ich (Bárbara), auch wenn leider ziemlich spät, vieles Neues lernen, als mein behindertes Kind auf die Welt kam. Ich hatte keine wirkliche Ahnung, wie Menschen mit Behinderung leben, wie es um ihre Rechte steht. Wäre das nicht schlimm genug, war ich auch der (falschen!) Meinung, dass wir als Gesellschaft schon viel im Bereich der Förderung von Inklusion, Barrierefreiheit und Gleichberechtigung für behinderte Menschen getan haben.

Mit der Geburt meines Kindes bin ich ins kalte Wasser gesprungen und wurde, wie alle pflegende Eltern es leider nur zu gut kennen, ziemlich schnell mit vielen Barrieren und unschönen Erfahrungen konfrontiert. Die erste Situation die ich erfahren habe, war direkt im Krankenhaus, nachdem mein Kind, damals ein fünf Tage altes Baby, aus der Intensivstation raus durfte und ich mich wie die glücklichste Mutter dieser Welt gefühlt habe und dachte: nichts und niemand kann mir dieses Gefühl wegnehmen. Bis eine Physiotherapeutin mir und meinem Mann sagte, bevor sie uns die ersten Physiktherapieübungen für mein Kind uns erklären wollte, dass wir als Eltern uns bewusst machen sollen, dass wir einen schweren Weg vor uns haben werden und dass wir uns eigentlich anders hätten entscheiden können. Ich starrte bei diesen Worten meinen Mann an und konnte meine Ohren nicht trauen. Ich fühlte mich komplett gelähmt und konnte in dem Moment nichts dazu sagen. Aber diese Erfahrung, bei der das Leben meines Kindes direkt nach seiner Geburt so sehr in Frage gestellt wurde, hat mich damals sehr verletzt. Ein Mama eines frisch geborenen Babys, egal ob mit oder ohne Behinderung, braucht etwas anderes als das. Ein Jahr später war ich dann bereit diese Erfahrung mit der Leitung der Kinderklinik zu teilen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wie gesagt, ich musste damals viel lernen und deshalb war es mir sehr wichtig, insbesondere Stimmen von behinderten Menschen zu hören und lesen – im Grunde genommen von ihnen zu lernen. Ich erinnere mich, wie ich damals besonders viel von Luisas L`Audace Instagram-Profil und durch den Podcast des Teams „Die Neue Norm“  gelernt habe. Über Luisas L´Audaces erstes Buch habe ich vor genau einem Jahre hier auf dem Blog geschrieben.

Der heutige Tag, der 3. Dezember, gilt weltweit als der „Internationale Tag der Menschen mit Behinderung“, ein Tag wo es darum geht, die Gesellschaft aufmerksam zu machen, dass Menschen mit Behinderung immer noch und viel zu oft benachteiligt werden.

Nicht nur heute, aber gerade heute, ist es uns wichtig, unseren Blog für die Stimmen von behinderten Menschen Platz zu machen. Dafür möchte ich das tolle Buch „Angry Cripples. Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus“ vorstellen, herausgegeben von Alina Buschmann, Luisa L´Audace bei dem Leykam Verlag. Mit sechszehn Kapitel von unterschiedlichen Autor*innen wie Kübra Sekin, Natalie Dedreux, Tanja Kollodzieyski, Nadine Rokstein, Jasmin Dickerson, Janina Nagel u.a. berichten sie über ihren Alltag, über Kunst, ableistische Erfahrungen, Pränataldiagnostik, selbstbestimmte Sexualität, über Gefühle wie Trauer und Hoffnung.


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Die unerwünschten Geschenke

by Bárbara Zimmermann

Es ist immer das Gleiche: Wenn wir als Familie mit unserer behinderten Tochter unterwegs sind, bekommen wir unterschiedliche Reaktionen von anderen Menschen wie auf einem Tablett serviert. Es können starrende Blicke sein, Fragen zu ihrer Behinderung – „Was hat sie denn?“ -, ungefragte Therapievorschläge, und – der Hit! (Ironie) – Geschenke von fremden Menschen.

Hier eine nicht vollständige Liste von solchen Geschenken: einen Schutzengel auf einem Straßenfest von einem Mann bekommen, zwei Euro von einer älteren Dame am Supermarkt – „Kauf dir was Schönes, meine Süße!“ und kneift ihr an die Backe dabei -, Luftballons von Clowns am Spielplatz – obwohl sie damals große Angst von ihnen hatte – und neulich eine Kette im Wert von 15€ von einem Mann der Schmuck in Hannover Innenstadt verkaufte.

Das ist alles lieb gemeint. Diese Menschen wollen meinem Kind etwas Gutes tun, ihm etwas schenken, eine Freude machen. An sich kein Problem, oder? Leider doch.

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Happy #spinabifidaawareness day! Hauptsache gesund? Nein, Hauptsache geliebt. Ein Heft für Eltern von Kindern mit Spina bifida

by Bárbara Zimmermann

Nicht nur die Down-Syndrom-Community hat ein tolles Unterstützungsheft, wie Anna hier in ihrem letzten Post berichtet hat, sondern auch Eltern von Kindern mit Spina bifida und Hydrozephalus.

Seit etwas mehr als einem Jahr ist das Aufklärungsheft „Hauptsache gesund? Nein, Hauptsache geliebt!“ in der Welt. Inspiriert hat mich die tolle Arbeit von Lara Mars mit ihrem „Von Mutter zu Mutter“.

Während meiner Schwangerschaft habe ich mich sehr nach einer ähnlichen emotionalen Unterstützung gesehnt. Mehr als den Arztbrief mit der Diagnose „Spina bifida“ und „Hydrozephalus“ in meinem Mutterpass hatte ich nicht. Oder doch: Ich hatte eine Menge Angst und gleichzeitig so viel Liebe für mein noch ungeborenes Kind.

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