„Wenn Du Hufgetrappel hörst, dann denke alle an Pferde und nicht an Zebras.“ Eine Redewendung, die in der Medizin deutlich machen soll, dass häufige Krankheiten wahrscheinlicher sind als seltene, auch wenn die Symptome eines Patienten zu beidem passen würden. Für rund vier Millionen Menschen in Deutschland ist genau das ein Problem: Sie sind Zebras, denn sie haben eine seltene Erkrankung. So wurde das Zebra zum internationalen Symboltier für die seltenen Erkrankungen.” Quelle Willkommen in der Welt der Zebras am “Tag der seltenen Erkrankungen” 2023.
Bárbara und Simone haben im Podcast “Selbsthilfe im Trend” mit der Moderatorin Sabine über Inklusion und Selbsthilfe aus der Perspektive pflegender Eltern gesprochen. Wir haben darüber gesprochen, wie wir Selbsthilfe verstehen und wie wir persönlich als pflegend Mütter Selbsthilfe im (Pflege)Alltag leben. Und wir blicken auch auf die Bedeutung von inklusiven Strukturen für die Selbsthilfearbeit.
Pflegende Eltern sind oft “laut” auf sozialen Netzwerken. Schreiben über ihre Belange und knüpfen Netzwerke – oftmals ohne dafür eigentlich noch Ressourcen zu haben. Selbsthilfe liegt uns. Sie muss uns liegen, weil die inklusiven Strukturen fehlen. Wir helfen uns selbst. Manchmal sind wir stolz darauf, manchmal fühlt sich das wie eine zusätzliche Belastung an. Sollte uns nicht vielmehr von Außen geholfen werden?
Darüber und welche Erwartungen wir an die organisierte Selbsthilfe als Betroffene haben, konnten wir mit Sabine in diesem Podcast sprechen. Hört es euch einfach an – 35 Minuten mit Bárbara und mir zum Thema. Ihr könnt es auf allen gängigen Streamingdiensten finden oder ihr hört ihn direkt auf der Seite von “Selbsthilfe im Trend”.
Simone Braunsdorf-Kremer hat uns erzählt, wie die Einschulung auch laufen kann für ein Kind mit Behinderung – nämlich mit ganz viel Engagement der zuständigen Stellen
Immer wieder lese ich Beiträge von pflegenden Eltern zur inklusiven Beschulung – und den Schwierigkeiten, die sie auf diesem Weg haben. Auf dem Weg zur Erfüllung einer Pflicht: der Schulpflicht! Denn die gibt es in Deutschland auch für Kinder mit Behinderung. Jeder dieser Berichte macht mich fassungslos…
Zum einen weil ich einfach nicht glauben kann, nicht glauben MÖCHTE, welche Steine Eltern von Kindern mit Behinderung in den Weg gelegt werden. Ich rede hier gar nicht von den unzähligen Stunden, die man mit dem Ausfüllen von Anträgen und Formularen…dem Kopieren von Gutachten und Arztbriefen…und den Telefonaten, um Bescheinigungen bei Ärzten anzufordern, verbringt. Ich rede auch nicht von den zig Terminen die man im Vorfeld wahrnehmen muss, damit das Kind einen IQ-Test macht oder man in einer Schule hospitiert. Denn daran haben wir pflegende Eltern uns bereits gewöhnt! Ich rede davon, das Eltern keinen Platz an einer Förderschule finden und ein Kind mit Förderbedarf an einer Regelschule beschult werden soll. Oder davon, dass Eltern gerichtlich einen Transport des Kindes zur Schule einklagen müssen. Oder auch davon, dass Kinder zwei Jahre lang gar nicht zur Schule gehen können, weil es keine Teilhabeassistenz gibt, die begleitet.
Zum anderen macht es mich fassungslos, weil es bei uns mit der Einschulung so reibungslos lief. Bei jedem Bericht, den ich lese, frage ich mich: „Bei uns war alles so einfach. Wieso ist das woanders denn nicht möglich?“
Herzlich Willkommen Nicole Wrede!Wir freuen uns über einen weiteren Gastbeitrag und einen kleinen Einblick in unsere Community. Im heutigen Beitrag geht es um inklusive Beschulung in Bremen
Unser Sohn – in der virtuellen Öffentlichkeit nenne ich ihn Hibbelmors* – kann bereits auf 9 Jahre inklusiver Bildungsbiografie zurückblicken. Er war in einer inklusiven Krippe und in einem inklusiven Kindergarten. Jetzt ist er in der vierten Klasse einer inklusiven Regel-Grundschule.
Bei uns in Bremen haben mit der Änderung des Schulgesetzes 2009 alle Schulen den Auftrag erhalten, sich zu inklusiven Einrichtungen zu entwickeln. In diesem Zuge wurde beschlossen, bis auf 3 spezielle Förderzentren alle „Sonderschulen“ zu schließen. Die 3 verbleibenden Zentren sind für die Förderbedarfe
Sehen,
Hören und
körperlich-motorische Entwicklung.
Kinder, die nicht in einem dieser Bereiche einen besonders ausgeprägten Förderbedarf haben, werden an Regelschulen beschult.
Der Hibbelmors vor seiner Schule (Copyright: Nicole Wrede)
Der Hibbelmors hat verschiedene Symptome, die einen umfassenden Förderbedarf mit sich bringen. Aber er kann trotz starker Brille und Nystagmus okay sehen (1. Förderzentrum ausgeklammert). Er hört wirklich gut (2. Förderzentrum passt nicht) und er kann sich weitgehend autonom bewegen (3. Förderzentrum fragwürdig). Er ist geistig beeinträchtigt und kommuniziert nur mit einigen Gebärden sowie wenig über einen speziellen Computer (Talker). Zudem gibt es das ein oder andere Pflegethema. Laut Bremer Schulentwicklungsplanung ist er damit an einer Regelschule richtig. In Frage kommen die Schulen, die einen Schwerpunkt Wahrnehmung und Entwicklung (W/E) haben. Das sind eben die Schulen, die offen für geistig beeinträchtigte Kinder sind.
Kinderschlaf – ein Thema, dass Eltern seit jeher beschäftigt und meistens hatte man wenig Vorstellung davon, wie wenig man tatsächlich schlafen wird, wenn das Baby da ist. Kinderschlaf bei Kindern mit Behinderung ist jedoch nochmal ein ganz anderes Thema, mit dem auch Experten oft nicht vertraut sind. Vor allem bei Kindern mit seltenen Erkrankungen wissen Ärzte und Eltern oft nicht, ob es sich nun um Schlafstörungen handelt, oder ob das Kind halt „ein schlechter Schläfer“ ist. Problem daran ist, dass sich pflegende Eltern deshalb oft jahrelang durch schlaflose Nächte quälen und denken, das muss so sein. Auch, weil Kinderärzte die Eltern oft mit folgenden Aussagen vertrösten: „da müssen alle Eltern durch,“ oder „das wird bald besser.“ Leider ist das oft bei Kindern mit seltenen Erkrankungen, oder Behinderungen nicht so. Eltern und betroffene Kinder leiden oft jahrelang unter einem enormen Schlafentzug. Meistens kommt dann noch die nächtliche Pflege Schlaf hinzu und die ganze Familie geht nach einigen Jahren auf dem Zahnfleisch.
Die Influenza- und RSV-Welle in den Kinderkliniken, fehlende Medikamente für Kinder, der Fachkräftemangel in allen Bereichen, die Kinder betreffen: das ist eine Krise. Eine echte Krise. Diesmal trifft sie unsere Kinder und uns Eltern noch ein bisschen härter – ich dachte nicht, dass das noch möglich wäre. In der Corona-Krise standen Familien, vor allem pflegende Familien, ganz hinten auf der politischen Agenda. Mein behindertes Kind hat Therapien verpasst, es wurden Operationen verschoben und ich saß alleine an seinem Bett auf der Kinderstation – ohne Unterstützung seines Vaters, weil wir nicht zu zweit bei unserem Kind sein durften. Es gab Regeln für alle, um alle zu schützen. Jetzt fehlen uns Krankenhausbehandlung, Kita-Betreuung und Medikamente für unsere Kinder, aber wer schützt jetzt das Leben meines chronisch kranken Kindes? Wenn ich diese Frage stelle, dann antwortet man mir: wieso, du wolltest doch Mutter werden. Du solltest mit deiner Elternschaft und deiner damit einhergehenden Verantwortung zurechtkommen.
„Umarmen und loslassen“ ist ein Buch, das vom Sterben erzählt und dabei das Lebenund die Kostbarkeit jedes Augenblicks feiert. Es ist eine Liebesgeschichte mit Happyend, denn Jaël hat uns zu glücklichen Eltern gemacht. Unsere Lernerfahrungen aus 13 Jahren mit unserer Tochter mitsamt allen Höhen und Tiefen haben Wolfgang und ich in einem einjährigen gemeinsamen Schreibprozess in diese 256 Seiten verpackt, und unser Verlag hat die Geschichte zu einem wunderschönen Buch gestaltet.” (Shabnam Arzt)
“Es ist ein Buch, das mich nach der Diagnose meines Sohnes begleitet hat. Ich habe viel von Shabnam gelernt, obwohl ich sie nicht kenne. Ich habe geweint und gelacht, als ich ‘Umarmen und loslassen’ las. Aber vor allem passierte eines: ich schöpfte Kraft und Mut und Zuversicht für eine gemeinsame und glückliche Zukunft mit einem Kind mit einem seltenen Gendefekt.” (Simone Brugger)
Ich bin seit drei Jahren eine berufstätige pflegende Mutter. Und ich habe meine Berufstätigkeit während der ersten vier Lebensjahre als pflegende Mutter unheimlich vermisst. Ich habe mich ständig selbst hinterfragt, warum ich das nicht hin bekomme – Arbeit und Kind. Dabei habe ich gepflegt, vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche. Ein Kleinkind mit Pflegegrad vier, 100 Prozent Schwerbehinderung und chronisch krank. Gelebt habe ich auf Kinderstationen und trotzdem: ich wollte zurück ins Berufsleben. Mein ursprünglicher Plan nach einem Jahr Elternzeit in meine Agentur zurückzukehren war einfach gescheitert – so im Vorbeigehen. Es wäre unmöglich gewesen. Es gab keine Betreuungsmöglichkeiten für mein schwer krankes Baby und welcher Arbeitgeber hätte mir ständig frei gegeben für die vielen Krankenhausaufenthalte? Ich wurde zu einer gesellschaftlichen Randgruppe. Niemand interessierte sich mehr für meine Ausbildung, für meine akademische Laufbahn oder mein Können. Niemand interessierte sich mehr für mich als Arbeitnehmerin. Am Rand der Gesellschaft wird die Frage nach der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf ins Private gedrängt. Deshalb brauchen wir in Deutschland hier und jetzt eine politische Auseinandersetzung zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf.
Quelle: Pexels. Fotograf: Tima Miroshnichenko
Zwei pflegende Mütter hatten diesen Sommer Unglaubliches für berufstätige pflegende Eltern ins Rollen gebracht. Sie haben eine Petition für 10 Tage Sonderurlaub gestartet und erfolgreich 30.000 Unterschriften gesammelt. Damit konnten Sie uns Gehör beim Bundestag verschaffen. Leider musste dann für ein entsprechendes Gesetz eine weitere Petition vom Bundestag mit 50.000 Unterschriften nachgelegt werden. Am 30. November endete die Frist der Petition mit rund 16.000 Unterschriften. Es wurde viel diskutiert, welche Hürden es gab, warum es nicht geklappt hat. Ich denke immer noch, dass es auch daran lag, dass viele Menschen sich keinerlei Vorstellung von unserem Alltag machen – außer, sie stecken mitten drin. Mir war vor der Geburt meines Kindes auch nicht bewusst, wie wenig Hilfe es tatsächlich gibt, die auch ankommt. Wir pflegenden Eltern gleichen sogar den Pflegenotstand auf Kinderstationen aus. Wir übernachten dort und erhalten bei längeren Aufenthalten (mehr als 28 Tage) nicht mal mehr das monatliche Pflegegeld.
Wenn ich morgens aufstehe, dann höre ich Stimmen aus dem Kinderzimmer. Es ist die Stimme meines sechsjährigen Sohnes und die der Nachtschwester. Niemals hätte ich gedacht, dass ich einmal nachts fremde Menschen in meiner Wohnung haben werde. Ich gehe ins Badezimmer und mache mich bereit für den Tag. Ich höre mein Kind im Kinderzimmer lachen, inhalieren und ein Hörbuch hören. Manchmal höre ich ihn auch mit der Pflegefachkraft streiten, oder ich höre Würgegeräusche, wenn er sich wieder einmal übergeben musste. Manchmal stehe ich im Badezimmer und denke, ich lebe das Leben einer anderen Frau. Ich habe das so nicht kommen sehen.
Ich stehe dort im Badezimmer und denke mir: wie gut, dass ich mich in Ruhe fertig machen kann und gleichzeitig denke ich mir: wie ist das nur passiert, dass sich nun fremde Menschen nachts durch meine Wohnung bewegen und sich um mein krankes Kind kümmern? Manchmal tappe ich morgens ins Badezimmer und sehe schon die Bettlaken und Decken am Boden liegen – dann springt sofort ein Gedankenkarussel an: was ist passiert? Müssen wir ins Krankenhaus, kann er in den Kindergarten, muss ich die Arbeit verschieben? Dann habe ich keine Geduld mehr mich in Ruhe fertig für den Tag zu machen, sondern gehe – so wie ich gerade bin – im Schlafanzug und mit zerzausten Haaren – zu meinem Sohn. Ich will bei ihm sein. Will wissen wie es ihm geht. Ihn in meine Arme schließen.
Wenn der Pflegedienst nachts da ist, habe ich an guten Tagen morgens Zeit Kaffee aufzusetzen. Es ist ein Privileg. Ich trinke Kaffee mit Milchschaum. Die Wohnung duftet nach Espresso und Familie. Ich mag dieses Gefühl von zuhause. So habe ich mir das gewünscht. Geborgenheit. Ich mache der Pflegefachkraft auch einen Kaffee, oder einen Tee. Schließlich hat sie die ganze Nacht auf mein Kind aufgepasst. Sie ist zu Gast in unserem zuhause. Sie soll sich willkommen fühlen. Sie hat die ganze Nacht lang die Herzfrequenz am Monitor überwacht und den Blutzuckersensor im Blick behalten. Sie hat das Bett neu bezogen, wenn mein Kind sich übergeben musste und ihm Nahrung und Wasser sondiert. Aber nicht nur das. Sie hat ihn getröstet, als ich schlief. Sie hat ihn beruhigt und Monster verjagt und seine Hand gehalten. Sie hat ihm gesagt, dass ich da bin. Im Zimmer nebenan.
Ich habe beruhigt geschlafen und konnte Kraft tanken für einen Tag voller Pflegearbeit, Carearbeit und Erwerbsarbeit. Ich starte in den Tag. In den Kindergartenrucksack packe ich Sondenmaterial und Glucose, den Blutzuckersensor und Joghurt – das Einzige, was mein Sohn isst. Brotdosen habe ich auch gekauft und sie in sechs Jahren nie genutzt. Ach ja und Spucktüten, die müssen natürlich auch in den Rucksack. Die Nachtschwester geht und wir haben noch etwas Zeit für uns. Anziehen, Zähne putzen, spielen. Unser „Besuch“ ist gegangen. Dann klingelt die Individualbegleiterin an der Wohnungstür und holt meinen Sohn ab. Er freut sich schon auf sie und seine Freunde im Kindergarten. Alles ganz normal und doch so anders. Meistens spreche ich mit der Individualbegleitung über Fakten, dann wünschen wir uns einen schönen Tag und mein Kind geht in den Kindergarten. Es ist plötzlich so still in der Wohnung. Eine Stille, mit der ich manchmal kaum umgehen kann. Ich habe vergessen, wie das ist für mich zu sein. Ich kenne vor allem eines: Funktionieren. Ich hoffe, der Tag wird gut für mein Kind. Ich hoffe, dass der Kindergarten mich nicht anruft und sagt, dass es ihm doch schlecht geht. Es ist nicht leicht loszulassen, aber ich werde besser darin. Jeden Tag. Ich hoffe jeden Tag auf normale Tage. Normale Tage sind gute Tage. Auch, wenn wir jeden Tag Besuch vom Intensivpflegedienst in unserem Zuhause haben.