Löffeltage

by Gastbeitrag Kaiserinnenreich

Ein Gastbeitrag von Hannah (Instagram @wunderlauschen). Ich, Simone, durfte Hannah bei der Reha meines Sohnes als Therapeutin kennenlernen und habe unheimlich viel von ihr mitnehmen dürfen. Hannah schreibt auf ihrem Blog Wunderlauschen über Begegnungen und die Begegnung mit Hannah war für mich definitiv auch eine wundersame. Heute stellen wir einen Text von Hannah vor, der von der “Löffeltheorie” handelt. Gerade für mich als Mama von einem chronisch kranken Kind ist die “Löffeltheorie” für die Gestaltung unseres gemeinsamen Alltags unfassbar wichtig. Oft muss ich mir vor Augen halten, dass mein Kind eben nicht so viele Löffel zur Verfügung hat, wie ich und das muss dann auch im Familienalltag berücksichtigt werden. 

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Zu verstehen, was ein normaler Tag von einem chronisch kranken Menschen abverlangt, ist oft nicht einfach. Warum so viele Pausen notwendig sind, warum manchmal spontanes Umplanen sein muss, warum in den Therapien manchmal nicht mehr die volle Leistung möglich ist, warum bei neurodivergenten Menschen in scheinbar entspannten Gesellschaftssituationen das Maskieren und Anpassen so viel Energie braucht, warum dann manchmal nicht mehr mehr als Tablet schauen möglich ist usw. Um das etwas verständlicher zu machen, hat Christine Miserandino die Spoontheory, also die Löffeltheorie, aufgestellt. Demnach hat ein chronisch kranker Mensch eben nur eine sehr begrenzte Anzahl an Löffeln, die hier die Energie darstellen sollen. Unterschiedliche Aktivitäten brauchen unterschiedlich viele Löffel. Entsprechend schneller oder langsamer können dann auch alle Löffel – und damit die Energie – aufgebraucht sein.

Für eine genauere Erklärung und die Geschichte dahinter könnt ihr gerne dem Link folgen.

In meiner Arbeit als Logopädin mit schwer mehrfach behinderten und chronisch kranken Kindern hilft mir das immer wieder. Wenn das Kind schon völlig fertig in meine Stunde kommt, nicht mehr mit Anforderungen umgehen kann, schnell wütend wird, verweigert oder weint, überlege ich manchmal, wie viele Löffel das Kind an dem Tag wohl schon gebraucht hat und wie viele entsprechend noch übrig sind. Oder ob überhaupt noch welche übrig sind. Meistens machen die Reaktionen des Kindes dann absolut Sinn. Entsprechend kann ich dann anders darauf eingehen und wir schwenken entweder zu einer einfacheren oder entspannten Aktivität um oder wir brechen manchmal auch die Stunde ab. Dann müssen erst wieder Löffel aufgeladen werden, bevor wieder etwas anderes möglich ist.

Aus solchen Situationen ist der folgende Text entstanden. In diesem Sinne: passt auf eure Löffel auf!

Löffeltage

ich wache auf

und zähle meine Löffel

was habe ich heute vor?

was kann ich heute tun?

ich zähle meine Löffel

einen fürs aufstehen

einen fürs aufs Klo gehen

einen fürs frühstücken

einen fürs Rollstuhl an den Tisch rücken

zwei fürs Zähne putzen

zwei fürs Haarbürste benutzen

zwei fürs Anziehen

zwei fürs mentale Vorbreiten für die Therapien

drei Löffel fürs kurz nach draußen gehen

eine Runde drehen

und dann kann ich fast nicht mehr stehen

Zeit für die erste pause

ich richte mich wieder auf

und zähle meine löffel

was kann ich heute machen?

was erlauben meine Löffel?

Ich zähle meine Löffel

einen fürs in den Rollstuhl setzen

einen fürs mich dabei am Schienbein verletzen

einen für den weg aus dem Zimmer

einen für ein kleines Gespräch – das geht nicht immer

zwei für den weg zur Therapie

zwei für die Pollenallergie

zwei fürs Rucksack auf der suchen nach einem Taschentuch verfluchen

zwei fürs ewige Mülleimer suchen

drei Löffel fürs in den Therapien maskieren

immer wie erwartet reagieren

und nicht die Konzentration verlieren

aber leider keine Zeit für die nächste Pause

ich gehe im Kopf den Tag kurz durch

und zähle meine Löffel

was bleibt mir nachher noch übrig?

was kann ich noch für mich machen?

Ich zähle meine Löffel

einen fürs im gang auf die nächste Stunde warten

einen für den Weg durch den Garten

einen fürs Katze kraulen

einen fürs Mama wegen meiner Müdigkeit anmaulen

zwei fürs laute Geräusche aushalten

zwei fürs dabei immer wieder auf ein Gespräch umschalten

zwei fürs Erkennen dass sie mich überfordern

zwei fürs Pause einfordern

drei fürs Pläne umwerfen

die kritische Löffellage entschärfen

und mich ins Bett werfen

ich hätte heute gerne noch gelesen

oder wäre draußen in der Sonne gewesen

ich hätte noch Kaba trinken wollen

oder mich lachend durchs Bett rollen

ich hätte gerne noch mit Mama gespielt

oder mit Papierkügelchen auf den Mülleimer gezielt

heute waren aber die Löffel schon aus

schlecht geschlafen und schon bin ich raus

zu lange mit Katze kraulen beschäftigt gewesen

blieben also keine Löffel mehr zum lesen

mich in den Therapien zu sehr angepasst

sind gleich noch mehr Löffel für heute verblasst

entweder oder ist es meistens nur

und fast nie ein und

und stelle ich mich einen Tag stur

bleibt am nächsten Tag ein kleinerer Löffelbund

ich kann nicht immer alles leisten

brauche mehr Pausen als du

habe nicht so viel Energie wie die meisten

und trotzdem gehöre ich gern dazu

bitte nimm Rücksicht und gib auf mich acht

zusammen kriegen wir das hin

dann zeige ich dir was mich ausmacht

und was für ein lebensfroher Mensch ich neben meiner Krankheit bin

 

Die Sache mit der Sprache – non-verbal, prä-verbal und alles dazwischen

by Anna

Lukas schaut in die Kamer, er hält ein Spielzeug nach vorne

I’m all out of love, I’m so lost without you

I know you were right believing for so long

I’m all out of love, wha am I without you?

I can’t be too late to say that I was so wrong

Die Zeilen von Air Supply klingen aus dem Musik Magneten am Kühlschrank, den ich meinem Mann zu unserem letzten Hochzeitstag geschenkt habe. Lukas liegt in meinen Armen, ich sitze am Esstisch, grade haben wir noch zu Abend gegessen. Sein Kopf liegt auf meiner Schulter und er singt mit. Klar und deutlich singt er Strophe 1, Refrain, Strophe 2. Zum nächsten Refrain steht er auf, nimmt seine Position ein und schmettert die Worte, die zum Klimax führen. Seine Posen passt er dem Text an, obwohl er ihn nicht versteht. Er versteht aber, dass es ein Lied mit ganz viel Gefühl ist und beschreibt mit seinen Armen große Kreise, während er den letzten lang gezogenen Ton beendet. Seine Hände landen übereinander gelegt auf seiner Brust und er schaut mich liebevoll an. Dann verbeugt er sich mit viel Schwung in alle Richtungen. Mein Mann und ich klatschen und rufen “Bravo, Bravo!”. 

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Wie erkläre ich meinen gesunden Kindern, dass ihre Schwester sterben wird?

by Gastbeitrag Kaiserinnenreich

Ein Gastbeitrag von Brenda (@brendaempunkt).

Ich registriere ein Aufschrecken. Sein Blick fixiert den herannahenden Krankenwagen. Die Lichter blinken, die Sirene dröhnt in unseren Ohren. Wir stehen da und starren hin. Auf den RTW, der diesmal nicht unserer ist. Er fährt vorbei, wir atmen auf. Für einen kurzen Moment holt uns die Vergangenheit ein, die gar keine Vergangenheit ist. Denn wie könnte etwas vergangen sein, das immer präsent zu sein scheint?

Als ich Marta geboren habe, war Johan drei Jahre alt. Ein Kindergartenneuling, dessen größtes Problem die heimliche Entsorgung ungeliebter Apfelschnitzer aus einer quietschbunten Plastikdose sein sollte. Der seinen Platz in einer Gruppe halbstarker Kindergartenerprobter finden musste und ganz nebenbei ein großer Bruder werden wollte. Da war viel Umbruch in diesem kleinen Leben. Wie existenziell dieses Leben erschüttert werden kann – davon bekam wir nach der Geburt seiner Schwester eine erste leise Idee.

Geschwisterkinder haben keinen Zutritt zur Neo-Intensivstation (wohl aber zur Kinderintensiv, wenn sie in einer Trage vor den Bauch geschnallt sind; andere Geschichte). Johan lernte Marta drei Wochen nach ihrer Geburt kennen. Sie war ein Baby mit Specialequipment: Monitor immer an Board. Ansonsten gab es da nicht viele Besonderheiten. Zumindest aus der Sicht eines Dreijährigen. Ich habe die Vorstellung ziemlich lange ziemlich gut gespielt. Zeitgleich gestillt und Lego gebaut. Klinik- und Therapietermine überwiegend in die Kitazeiten gelegt. Und wenn das mal nicht ging, überaus fleißig die übertrieben große Spielausstattung des Physiotherapeuten gemeinsam mit Johan bespielt. Die ersten Monate waren gut.

Dann kamen die Krampfanfälle. RTW, West Syndrom, Cortisontherapie, Pneumonie und fünf Wochen auf Station in einer Kinderklinik, die bei angenehmer Verkehrslage in 45 Minuten mit dem Auto zu erreichen ist. Johan hat gesehen, wie der Rettungswagen vom Hof gefahren ist. Er musste miterleben, wie Mutter und Schwester für lange Zeit nicht wieder nach Hause kamen. Bei seinen wenigen Besuchen lag Marta in einem Gitterbett, das zierliche Gesicht von einer Atemmaske bedeckt. Niemand durfte ohne Mundschutz ins Zimmer. Und wir haben weitergespielt: Auf den Grünflächen des Klinikgeländes und im Sand des angrenzenden Spielplatzes. Es gibt viele Fotos aus dieser Zeit. Eingefangene Momente voll schöner Erinnerungen. Für immer beschwert durch die Dramatik der Umstände.

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Die Sommerreihe: Ferien mit behindertem Kind – Ein Legoland-Besuch mit unserem autistischen Sohn

by Anna

Cover der Reihe Ferien mit behidnertem Kind - die Sommerreihe auf Kaiserinnenreich.de, man sieht drei Bilder, einen Hügel mit übergroßen Legosteinen, ein Bild vom Spielplatz mit zwei Piraten in Lebnsgröße, der links benutzt einen Rollstuhl, das dritte Bild zeigt eine lebensgroße Legofigur auf einer Bank: ein älterer Herr im roten Blumenhemd mit blauer kuerzer Hose, daneben Annas Sohn in Jacke und Mütze, der sich runterbeugt

Dieser Artikel ist der Auftakt zu unserer Reihe „Ferien mit behindertem Kind“. Wir drei – Anna, Bárbara und Simone -, sowie weitere Gastautor*innen werden euch von unseren Ferien aus verschiedenen Perspektiven erzählen.

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Ausflüge. Für viele Familien bedeutet das, dass Anreise, Aufenthalt, Preise, Snacks gecheckt werden müssen. Es ist aufregend oder spannend, je nach Familienkonstellation auch anstrengend, aber vielleicht auch einfach was Tolles. Für viele Familien sind Ausflüge eine schöne Abwechslung zum Alltag, mal raus kommen, mal was anderes sehen, was erleben, ein Mini-Abenteuer. Viele Familien setzen sich einfach in Auto oder Bus und ziehen los. Unterwegs braucht es ein Klo, vielleicht mal ne Bank zum Ausruhen oder was, um die Motivation der Kinder hoch zu halten. Es gibt von günstige bis hin zu sehr teuer alle Möglichkeiten.

In vielen anderen Familien braucht es über diese Vorbereitungen hinaus noch viel mehr. Es beginnt mit Recherche: wie sind die Ticketformalitäten, wie wird der SBA (Schwerbehindertenausweis) gewertet, kostet der Eintritt weniger, ist der Eintritt für die Begleitperson frei? Wie sind die Gegebenheiten, räumlich und organisatorisch, wie sehen die sanitären Einrichtungen aus, wie groß ist die Behindertentoilette, welche Möglichkeiten fürs Essen gibt es, kann ich eigenes Essen erwärmen, gibt es die Möglichkeit, irgendwo in Ruhe zu sondieren, wie ist die Situation für Personen mit schneller Reizüberflutung, gibt es Rückzugsmöglichkeiten, was sind die schnellsten Exitstrategien, wenn alles zu viel wird?

Man sieht das Piratenhotel im Feriendorf, die Fassade des Hotels ist wie alte, bunte Häuser gestaltet

Natürlich könnten Menschen, die diese Überlegungen nicht kennen, sagen: „Warum lasst ihr es denn nicht einfach?“ Unsere Antwort: „Teilhabe.“ Teilhabe ist eins der Schlüsselwörter für Inklusion. Wer am Leben, wie der Rest der Gesellschaft es kann, nicht teilhaben kann oder darf, dessen Lebensqualität ist geschmälert. Dies gilt für viele verschiedene Gründe: finanzielle Gründe, Sicherheitsgründe, logistische Gründe, Diskriminierung.

Heute möchte ich euch von unserem Besuch im Legoland mit unserem autistischen Sohn erzählen. Er ist 8 und eine Weile war Lego bauen sein Spezialinteresse, also gehen wir seit zwei Jahren regelmäßig (1-2 Mal pro Jahr) ins Legoland. Für dieses Jahr haben wir uns für eine Übernachtung mit zwei Tagen Park entschieden.

das Bild zeigt eine lebensgroße Legofigur auf einer Bank: ein älterer Herr im roten Blumenhemd mit blauer kuerzer Hose, daneben Annas Sohn in Jacke und Mütze, der sich runterbeugt
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Sandwichpflege – ein Gastartikel von Constanze

by Anna

Heute begrüßen wir Constanze Fortnagel (Instagram: @tim_tanzt_trotzdem) mit einem Thema, das für viele von uns vielleicht noch weit weg ist, aber schneller näher kommen kann, als wir glauben. Ich selber kenne Sandwichpflege aus meiner Familie, in der es einige Pflegegrade gab und gibt. Vielen Dank, Constanze, für eine weitere gefühvoll erzählte Geschichte aus der Community, der wir dringend zuhören sollten.

“Sandwichpflege”: Fürsorge zwischen dem eigenen, behinderten Kind und der chronisch kranken Mutter – eine emotionale Unvereinbarkeit

Am 15. November 2019 rief mich mein Vater an. Meiner Mutter ging es sehr schlecht und ich solle besser heim kommen. An diesem Tag wurde ich von einer pflegenden Mutter zur pflegenden Angehörigen in doppelter Ausführung. Aber ich beginne von vorn:

Mein Name ist Constanze, 37 Jahre alt, seit 9 Jahren verheiratet und Mutter eines 7-jährigen Sohnes. Mein Sohn Tim hat die Diagnose Autismusspektrumstörung. Schon früh merkte ich, da ist irgendetwas anders mit meinem Kind und trotzdem wollte ich es zuerst gar nicht so wahr haben. Vielleicht erkannte ich auch einfach von Berufs wegen nicht, was genau vor mir lag, denn als Sprachtherapeutin habe ich schon viele Jahre mit autistischen Kindern gearbeitet und kannte mich dementsprechend aus. Aber wie es oft so ist, ist die Betroffenheit beim eigenen Kind etwas völlig anderes. Ich habe getrauert, als die Verdachtsdiagnose zum ersten Mal ausgesprochen wurde. Ich habe getrauert und war gleichzeitig erleichtert, als die Diagnostik dann im Januar 2022 vollständig abgeschlossen war.

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Ein schöner Tag

by Jasmin Dickerson

Frühling auf dem Balkon mit Sneakers

Meine dreieinhalbjährige Tochter hat das Pitt Hopkins Syndrom, eine seltene genetische “Anomalie”, durch die sie mit  muskulärer Hypotonie, Kurzsichtigkeit und anderen Dingen lebt.
Sie ist nonverbal, das heißt sie spricht (bisher) nicht. und sitzt im Rollstuhl. Viel zu oft muss (und möchte) ich von den Herausforderungen in ihrem und unseren Leben durch ihre Behinderung erzählen aber es ist mir wichtig, auf diesem Blog auch einmal einen Einblick in einen ganz gewöhnlichen, unspektakulären Tag in unser Leben zu geben denn “normal” sieht für uns alle anders aus: Weiterlesen

Bye bye, Behindertenparkplatz //
Ein Abschiedsbrief

by Mareice Kaiser

Lieber Behindertenparkplatz,

seit zwei Jahren gehörst du zu meinem Leben wie meine Brille auf der Nase. Na ja, nicht ganz so existenziell. Ohne meine Brille finde ich den Weg zurück nach Hause nicht, wenn ich nachts betrunken aus einer Bar falle, was ich, um ehrlich zu sein, mittlerweile nicht mehr als zehn Mal im Jahr mache. Schließlich bin ich Mutter von zwei Kindern. Eines davon mit Behinderung, das andere ohne – aber auch nicht ohne. Die Mutter, also ich, auch nicht. Ausgehen, Alkohol trinken, tanzen. Das geht auch alles als Mutter, auch als Mutter einer behinderten Tochter, auch wenn das manche Menschen gar nicht glauben können. Echt nicht. Die sagen dann irgendwann spät nach Mitternacht an der Bar: „Ich hätte ja nicht gedacht, dass man sich mit dir betrinken kann. So als Mutter von einem behinderten Kind.“ Tz.

Wenn ich dann also nachts, im besten Fall mit Brille auf der Nase, nach Hause kam, lief ich immer auch an dir vorbei, mein lieber Behindertenparkplatz. Direkt vor unserer Haustür haben dich zwei Männer hingemalt. Zwei weiße Streifen rund um die Parkbucht herum, kleines Schild mit einer Nummer aufgestellt, und schon warst du da. Lange ersehnt, denn so einfach war es nicht, dich zu bekommen. Du hast dich ordentlich geziert. Weiterlesen