In unserem heutigen anonymen Gastbeitrag lässt uns eine Mutter an ihrem Denkprozess teilnehmen, den sie über die Jahre durchlebt hat. Für sie hat auch die Reflektion über die Bezeichnungen “behindert” und “mit Behinderung” viel dazu beigetragen. Danke, dass du uns deine Gedanken schenkst.
Vor fünf Jahren hatte ich beinahe ein Inkassoverfahren am Hals, weil ich mehrfach vergessen habe, einen Sondenbody für mein schwerstkrankes Kleinkind zu bezahlen. Ich habe den Body im Internet bestellt, er kam irgendwann an und lag verpackt auf dem Küchentisch. Niemand packte ihn aus. Wir waren in der Klinik und dann in der nächsten Klinik und dann auf der Intensivstation und die Mahnungen flatterten rein und dann kamen wir nach Hause und ich packte die Koffer aus und wusch unsere Kleider und packte eine neue Kliniktasche. Ich kaufte Lebensmittel, bestellte Rezepte, rannte zur Apotheke, sondierte, wickelte, aß und trank nicht und vergaß die Rechnungen. Der Tag hatte nur 24 Stunden. Wir hatten keinen Pflegedienst. Ich hielt Nachtwache vor dem Monitor und dachte: ich muss heute die Rechnungen bezahlen. Morgen früh. Da werde ich sie überweisen. Ganz sicher.
Es wurde morgen früh. Mein Kind baute ab und ich warf die Kliniktasche ins Auto, packte den Rucksack und vergaß die Rechnungen. Ich fuhr ins Krankenhaus. Ich hatte vergessen zu tanken. Mein Kind erbricht sich auf dem Rücksitz. Aber ich muss tanken, sonst kommen wir nie im Krankenhaus an. Zeitgleich telefoniere ich mit der Kinderärztin und dem Krankenhaus. Mir fallen die Rechnungen ein. Ich schreibe meinem Mann, dass er nach dem Büro die Rechnungen bezahlen soll. Aber am Abend, als unser Kind wieder auf der Intensivstation liegt, haben wir beide die Rechnungen wieder vergessen. Ich bin wütend auf meinen Mann. Er kommt erst spät zu uns in die Klinik. Wir streiten. Wir haben keine Nerven für den Alltag einer normalen Familie. Wir streiten nie über die banalen Dinge im Alltag, sondern immer über existentielle Dinge. Wir streiten, wer erschöpfter ist, wer mehr von seinem Leben aufgegeben hat und wer die heutige Nacht in der Klinik übernehmen muss. Wir wollen überhaupt nicht streiten, aber wir sind am Rande unserer Belastbarkeit angekommen. Die Prioritäten haben sich verschoben von: wer zahlt wann die Rechnungen zu: wer sorgt dafür, dass unser gemeinsames Kind heute Nacht im Krankenhaus nicht verstirbt? Also werden wir abgemahnt. Aber nicht nur wegen der Rechnungen, sondern auch vom System, das uns hat fallen lassen.
Wir haben keine Zeit für den Alltag, aber er läuft weiter und frisst unsere Ressourcen. Oft zahlen wir drauf, weil die Rechnungen dann halt immer teurer werden und diese Rechnungen stehen auch metaphorisch für unseren Lifestyle. Einer zahlt immer drauf. Meist sind es die Mütter. Sind wir mal ehrlich. Wie oft habe ich meinen Mann beneidet, weil er statt ins Krankenhaus ins Büro gehen kann? Und wie oft hat er mich beneidet, dass ich bei unserem Sohn sein darf, während er arbeiten muss. Eigentlich sollten wir zusammen sein können. Zu dritt. Aber das geht nicht. Stattdessen zahlen wir drauf. Finanziell und mit unserer Psyche. Wir sehnen uns nach Gemeinsamkeit und streiten über den Mental Load. Wenn wir zuhause sind, versuchen wir dort anzuknüpfen, wo wir zuvor aufgehört haben und schaffen es nicht. Es ist zu viel liegen geblieben. Nicht nur die Rechnungen. Auch die Behördenbriefe, der Müll, die Wäsche, der Staub. Wir kommen völlig ausgelaugt zuhause an und wissen nicht wo beginnen. Alle wünschen uns ein schönes Ankommen zuhause. Wir fragen uns nur: wie um Himmels willen sollen wir zuhause ankommen, wenn unser Leben die Zwischenwelt ist? Die Berge von Verpackungsmaterialen erschlagen mich und machen die Wohnung wenig barrierefrei. Wenn ich jetzt einen Aufbewahrungsschrank im Internet bestelle, dann baut diesen wahrscheinlich nie jemand auch und die erste Mahnung liegt quasi schon im Briefkasten. Wir wissen nicht, wo wir diesen normalen Alltag einer Familie unterbringen sollen, neben dem medizinischen Wahnsinn, der Pflege und dem Überleben. Also zahlen wir weiterhin drauf, ohne uns zu beschweren. Ein Guthaben gibt es leider nicht. Schade Schokolade.
Stell dir vor, du hast endlich einen heiß begehrten Kita-Platz für dein Kind bekommen, und dann darf es doch nicht hingehen. So ergeht es aktuell vielen Eltern in NRW, deren Kinder eine schwere Behinderung haben und daher auf eine Inklusionskraft, sogenannte Kita-Assistenz, angewiesen sind. Ohne diese 1:1-Betreuung ist es für die Kinder unmöglich, am Kita-Alltag teilzunehmen und Teil der Gemeinschaft zu sein.
Meine vierjährige Tochter Fritzi ist aufgrund eines seltenen Gendefekts schwer mehrfachbehindert. Sie ist das einzige schwer behinderte Kind in ihrer Kita. Sie kann nicht sprechen, nicht laufen, nicht alleine sitzen, nicht alleine essen oder trinken. Ohne ihre geliebte Inklusionskraft Janna könnte sie nicht dorthin gehen. Janna tanzt mit ihr, malt und bastelt mit ihr, stützt sie, wenn sie laufen will, und übersetzt ihre Körpersprache für die anderen Kinder. Sie ist Fritzis Schlüssel zur Kita-Welt. In den letzten zwei Jahren wurde uns die Assistenz ohne Probleme in der notwendigen Stundenanzahl bewilligt. Doch 2024 mussten wir uns sorgen.
Ich bin ja Germanistin und liebe das geschriebene Wort. In meiner Welt bedeutet Sprache Macht und daran glaube ich! Ich bin mir sicher, dass Gespräche, Bücher und die Art und Weise wie wir die Welt beschreiben einen Unterschied machen. Sprache prägt unsere Kinder und unseren Umgang mit unseren Mitmenschen. Sprache formt unser Weltbild von Kindesbeinen an. Worte können wie eine sanfte Umarmung sein oder eine klaffende Wunde hinterlassen. Und deshalb braucht unsere digitale Welt immer noch Bücher. Bücher die uns lehren und Träume schenken. Bücher die unsere Werte weitertragen. Und genau so ein Buch ist „Ich bin Mari“ von Shari und André Dietz.
Es ist immer das Gleiche: Wenn wir als Familie mit unserer behinderten Tochter unterwegs sind, bekommen wir unterschiedliche Reaktionen von anderen Menschen wie auf einem Tablett serviert. Es können starrende Blicke sein, Fragen zu ihrer Behinderung – „Was hat sie denn?“ -, ungefragte Therapievorschläge, und – der Hit! (Ironie) – Geschenke von fremden Menschen.
Hier eine nicht vollständige Liste von solchen Geschenken: einen Schutzengel auf einem Straßenfest von einem Mann bekommen, zwei Euro von einer älteren Dame am Supermarkt – „Kauf dir was Schönes, meine Süße!“ und kneift ihr an die Backe dabei -, Luftballons von Clowns am Spielplatz – obwohl sie damals große Angst von ihnen hatte – und neulich eine Kette im Wert von 15€ von einem Mann der Schmuck in Hannover Innenstadt verkaufte.
Das ist alles lieb gemeint. Diese Menschen wollen meinem Kind etwas Gutes tun, ihm etwas schenken, eine Freude machen. An sich kein Problem, oder? Leider doch.
Die dritte Schulvorstellung für die erste Klasse in einer Grundschule. Ich sitze mit meinem Kind, M., im Sekretariat und zum dritten Mal werde ich vom Sonderpädagogen gefragt: „Wollen Sie doch nicht eine Förderschule?“ Und ich denke mir zum dritten Mal „Nein, verdammt, deswegen sitze ich hier und nicht in einer Förderschule“, antworte aber freundlich und bestimmt „Nein, die Förderschule kommt für mich nicht in Frage, weil…“
Warum eigentlich nicht? Alle schwärmen so von den Förderschulen, wenn es um mehrfach behinderte Kinder geht. Sie würden so tolle Therapien bekommen, schwimmen, reiten, eigener Motorikraum, alle kennen sich mit Unterstützer Kommunikation aus…Manchmal hört sich das für mich an, wie Zauberschulen mit Feen, die alles gerade biegen, emotionale Störungen, körperlichmotorische, sprachliche, sogenannte geistige, schön nach Förderschwerpunkten aufgeteilt. Und dann das schlimme Gegenteil an den Regelschulen: überfüllte Klassen, Lehrer*innen, die keine Erfahrung mit behinderten Kindern haben, zu wenig Personal, Mobbing…Will ich das wirklich meinem Kind antun?!
Meine Antwort wird immer „Ja“ bleiben. Weil es hier nicht um Physiotherapie oder Logopädie geht oder meine Entlastung als Mutter. Es geht um ein Menschenrecht, das Recht meines Kindes auf Bildung nach Art.24 der UN BRK.
Dieser Artikel ist der Auftakt zu unserer Reihe „Ferien mit behindertem Kind“. Wir drei – Anna, Bárbara und Simone -, sowie weitere Gastautor*innen werden euch von unseren Ferien aus verschiedenen Perspektiven erzählen.
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Ausflüge. Für viele Familien bedeutet das, dass Anreise, Aufenthalt, Preise, Snacks gecheckt werden müssen. Es ist aufregend oder spannend, je nach Familienkonstellation auch anstrengend, aber vielleicht auch einfach was Tolles. Für viele Familien sind Ausflüge eine schöne Abwechslung zum Alltag, mal raus kommen, mal was anderes sehen, was erleben, ein Mini-Abenteuer. Viele Familien setzen sich einfach in Auto oder Bus und ziehen los. Unterwegs braucht es ein Klo, vielleicht mal ne Bank zum Ausruhen oder was, um die Motivation der Kinder hoch zu halten. Es gibt von günstige bis hin zu sehr teuer alle Möglichkeiten.
In vielen anderen Familien braucht es über diese Vorbereitungen hinaus noch viel mehr. Es beginnt mit Recherche: wie sind die Ticketformalitäten, wie wird der SBA (Schwerbehindertenausweis) gewertet, kostet der Eintritt weniger, ist der Eintritt für die Begleitperson frei? Wie sind die Gegebenheiten, räumlich und organisatorisch, wie sehen die sanitären Einrichtungen aus, wie groß ist die Behindertentoilette, welche Möglichkeiten fürs Essen gibt es, kann ich eigenes Essen erwärmen, gibt es die Möglichkeit, irgendwo in Ruhe zu sondieren, wie ist die Situation für Personen mit schneller Reizüberflutung, gibt es Rückzugsmöglichkeiten, was sind die schnellsten Exitstrategien, wenn alles zu viel wird?
Natürlich könnten Menschen, die diese Überlegungen nicht kennen, sagen: „Warum lasst ihr es denn nicht einfach?“ Unsere Antwort: „Teilhabe.“ Teilhabe ist eins der Schlüsselwörter für Inklusion. Wer am Leben, wie der Rest der Gesellschaft es kann, nicht teilhaben kann oder darf, dessen Lebensqualität ist geschmälert. Dies gilt für viele verschiedene Gründe: finanzielle Gründe, Sicherheitsgründe, logistische Gründe, Diskriminierung.
Heute möchte ich euch von unserem Besuch im Legoland mit unserem autistischen Sohn erzählen. Er ist 8 und eine Weile war Lego bauen sein Spezialinteresse, also gehen wir seit zwei Jahren regelmäßig (1-2 Mal pro Jahr) ins Legoland. Für dieses Jahr haben wir uns für eine Übernachtung mit zwei Tagen Park entschieden.
Wir haben da alle Mist gebaut. Richtig Mist. Wir alle zusammen. Jede*r für sich hat keine*r mitgedacht. Und jetzt haben wir den Salat. Oder Mist. WTF ich bin so wütend. Auf uns alle. Es sind noch fünf Wochen Kindergarten. Die letzten Tage einer Zeit mit Höhen und Tiefen, Unsicherheiten, ungeahnten Talenten und Schritten in allerlei Richtungen. Und ich habe hier ein Vorschulkind, was kein Vorschulkind ist. Klingt komisch? Ist es auch. Allerdings nicht im Sinne von „lustig“.
Aktuell ist Inklusion von behinderten Kindern vom Willen und dem Engagement einzelner Menschen abhängig. Menschen, die für wenig Gehalt eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe als persönliche Assistenz , Integrationskraft oder Schulbegleitung übernehmen. Und sie ist von mir abhängig, oder von meinem Mann. Von Eltern. Wir sind die Lösung. Wir ermöglichen, kämpfen, werden laut und sollen die Stimme unserer Kinder sein. Obwohl wir das gar nicht sein können, denn sie haben ihre eigene Stimme, ihre eigenen Wünsche, ihre eigene Persönlichkeit. Warum das alles? Weil wir als die Lösung gesehen werden. Elternschaft heißt aber nicht, dass man per Geburt des Kindes zum Inklusionsaktivisten wird, und, dass man das auch kann. Aber die Anspruchshaltung ist da: es ist dein Kind, also regle. Therapeuten erwarten gute therapeutische Ergebnisse und Mitarbeit von den Eltern. Ärzte erwarten Kooperation und Verständnis bei schwierigen Eingriffen und langen Krankenhausaufenthalten. Pädagogen erwarten Verständnis, dass das behinderte Kind halt nicht immer dabei sein kann und Verwandte erwarten Verständnis, dass man damit halt nicht gut umgehen kann. Das ist ja auch ein Schicksalsschlag, nicht?
Also sorgen wir täglich für Inklusion im privaten Rahmen, mit viel Aufwand. Nicht, weil wir das so gut können, sondern weil alle Eltern für ihre Kinder eine gute Zukunft möchten. Und die wollen wir selbstverständlich auch für unsere Kinder mit Behinderung. Eine mit Möglichkeiten. Eine mit Berufswünschen, erster Liebe und eigener Wohnung. Eine, die ist wie die von gesunden und nichtbehinderten Menschen. Und ich wette, bei jedem, der diese Zeilen jetzt liest, kommt sofort der Gedanke, dass das niemals möglich ist! Ich sage euch, das wäre es, wenn ihr es genauso wollen würdet, wie wir!
Aber im gesamtgesellschaftlichen Habitus ist immer noch ein Gedanke tief verankert: wir sollen nicht immer so viel wollen für Menschen mit Behinderung. Seid doch mal dankbar. Ich frage mich, warum denn nicht, hm? Wieso sollte ich denn für mein behindertes Kind nicht dieselbe schöne Zukunft gestalten wollen, wie die für ein nichtbehindertes?
Mein Sohn war noch keine sechs Monate alt und Ärzte sagen mir, dass mein Kind nichts können wird. Lieber schon mal auf die schwierige Zukunft vorbereiten, denkt sich die Fachperson. Falls es dann widererwartet doch besser läuft, freut die Mama sich auch mehr. Interessant ist das durchaus, finde ich, dass man gerade in einer Leistungsgesellschaft wie der unseren einem behinderten Kind so gar nichts zutraut. Lieber gleich mal klar stellen, dass da gar keine Erwartungen da sind. Zuhause bei Mama bis zur Förderschule, danach Behindertenwerkstatt. Das ist die Lösung, für die wir als Familie, für die unsere Kinder dann auch noch dankbar sein sollen! Es tut mir leid, dafür bin ich nicht dankbar. Ich frage dich, bist du Vater, Mutter, Oma, Opa, Schwester, Bruder? Würdest du diese Zukunft für einen Angehörigen aus deiner Familie wollen? Nein? Warum befürwortest du das dann für mein Kind?
Inklusion ist ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag. Sie ist gesetzlich verankert. Sie ist ein Menschenrecht. Aber wir brauchen trotzdem immer noch Protesttage zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, wie heute am 5. Mai. Weil es noch lange nicht in den Köpfen der Menschen angekommen ist, dass Teilhabe immer noch ein fucking Privileg ist!
Ich als Mutter bin nicht die Lösung des Problems. Denn ich kann das alleine überhaupt nicht schaffen. Das ist Utopie und trotzdem versuche ich es jeden Tag. Manchmal erfolgreich, manchmal weniger erfolgreich. Diese Woche war mein chronisch krankes Kind mit seiner Kindergartengruppe auf einem Ausflug. Er war das glücklichste Kind des Tages. Er war einfach ein Kind, wie alle anderen 16 Kinder eben auch. Die Vorarbeit, dass er daran teilnehmen konnte, war enorm und ohne seine persönliche Assistenz, die alles gegeben hat, wäre es auch niemals möglich gewesen. Sie sorgte dafür, dass er seine Medikamente bekommt, Nahrung, Flüssigkeit und überwachte seine Vitalparameter. Sie sorgte für einen Tag Kindheit für meinen Sohn. Er konnte ohne Eltern an dieser Fahrt teilnehmen, wie alle anderen Kinder auch! Das war wichtig für seine Entwicklung, für sein Selbstbewusstsein. Er ist ein Vorschulkind und es muss möglich sein, dass er ohne mich an solchen Ausflügen mit dabei ist.
Letztes Jahr um dieselbe Zeit schrieb ich: zwei Geburtstagsfeiern diese Woche haben mich als pflegendes Elternteil an meine Grenzen gebracht. Beide Erlebnisse haben mir wieder gezeigt: der krampfhafte Versuch meinerseits Normalität für ein Kind mit Behinderung und Pflegebedarf zu schaffen, ist falsch. Es erfordert von uns als Familie einen zu hohen Einsatz. Teilhabe heißt für uns auch manchmal uns den Stress nicht anzutun und eben nicht teilzunehmen. Ich kann als Elternteil keine Lösung für fehlende Inklusion sein. Ich bin nicht die Lösung, weil mein Kind nicht das Problem ist. Und auch, weil es nicht meine Aufgabe sein sollte. Ich bin Mutter. Aber seit sechs Jahren spiele ich zusätzlich Inklusionsfachkraft. Und betreibe Aufklärungsarbeit in meinem Umfeld. Gesamtgesellschaftlich werden Behinderung und Krankheit immer noch nicht mitgedacht. Es ist ein strukturelles Problem, dass ich als Elternteil für die Teilhabe meines behinderten Kindes allein Sorge tragen muss. Ich gleiche angebliche Defizite aus und sorge so für scheinbare Normalität für mein Kind. Er bemerkt es noch nicht. Noch fühlt er sich integriert, weil ich noch für seine Teilhabe sorge. Aber mein sechsjähriges Kind wird irgendwann auch allein zu Spieletreffen gehen wollen. Leider wird das wirklich schwer werden das umzusetzen, denn im Moment kann er noch nicht für sich selbst sorgen und einstehen.
Mittlerweile bemerkt mein Sohn durchaus, dass er des Öfteren ausgeschlossen und separiert wird. Er ist 7 Jahre alt und er weiß, dass er anders behandelt wird, als seine Freunde im Kindergarten. Es ist ihm gegenüber nicht fair, dass er immer alles in Begleitung seiner Eltern machen soll. Ich bin nicht die Lösung, ich bin seine Mama und er muss die Möglichkeit bekommen selbständig zu leben. Die Lösung ist vielmehr, dass ein strukturelles Problem, nämlich das Fehlen der Inklusion in diesem Land, behoben werden muss. Und dazu kann jeder Einzelne beitragen.
Heute begrüßen wir Nadine (Instagram: @inklu_do) mit einer weiteren Perspektive zum Thema inklusive Beschulung. Nadine berichtet von ihren Erfahrungen in der Schweiz. Ihre Tochter wird nun seit mittlerweile einem Jahr zuhause im Homeschooling beschult – Larina hat das Downsyndrom und ist 11 Jahre alt. Nadine berichtet sehr berührend über die Probleme mit der Inklusion, die ihre Familie ab dem Kindergarten dann begleiteten und warum sie sich letztlich für eine Beschulung zuhause entschieden haben.
Unsere Larina ist nun 11 Jahre alt, sie hat das Down Syndrom. Seit etwas mehr als einem Jahr unterrichten wir sie im Homeschooling. In einigen Kantonen der Schweiz ist das erlaubt, so auch bei uns in Bern. Wir haben ohne Probleme die Bewilligung bekommen. Aber so ganz freiwillig machen wir das nicht. Mir fehlen für Larina die Kindergruppe, der Turnunterricht, das gemeinsame Gestalten, die Lieder und Spiele, die Schulreise und einfach der tägliche soziale Kontakt. Den hatte sie mal! Sie durfte so selbstverständlich mit drei jährig in die Spielgruppe, wie vorher auch ihre beiden Geschwister. Die Kinder konnten mit ihr Inklusion lernen, sie hören, sie sehen, sie kennenlernen und sie ganz normal finden. Auch in der Kita hatten wir grosses Glück, Larina war voll dabei, ohne besondere zusätzliche Begleitung. Kein Wunder, dass auch der Kindergarteneinstieg hier im Dorf geglückt ist! Es war unglaublich berührend mitzuerleben, wie sich Larina jeden Morgen fröhlich vor dem Kindergarten in die Kinderschar einreihte! 6 Lektionen für eine Heilpädagogin wurden zu dieser Zeit als Maximum an Begleitung im Kanton Bern gesprochen. Trotzdem durfte Larina ihr Pensum bald aufstocken und fast so viel in den Kindergarten gehen, wie die anderen Kinder. Die grossen Mädchen nahmen sie so gerne mit ins Spiel und kümmerten sich rührend. Larina bekam auch Freundebücher mit nach Hause und wurde zu Geburtstagen eingeladen.